Partitur des Todes
mir egal, ob das Roland Wagner passt oder nicht. Wir sind nicht dazu da, dem Innenminister eine Freude zu bereiten.»
Zehn
«Zwei Stunden», schimpfte Marthaler. «Fast zwei Stunden hat diese verdammte Sitzung gedauert. Das sind hundertzwanzig Minuten, in denen nichts geschehen ist. Weitere hundertzwanzig Minuten Vorsprung für unseren Täter.»
Sie fuhren mit großer Geschwindigkeit über den Alleenring. Sie saßen zu viert im Wagen, den Marthaler steuerte. Neben ihm hatte Oliver Frantisek Platz genommen; auf der Rückbank saßen Sven Liebmann und Kai Döring.
«Wie fühlt man sich eigentlich, wenn man von allen als Siegertyp behandelt wird?», fragte Döring.
Niemand reagierte. Döring tippte seinem Vordermann vorsichtig auf die Schulter. «He, Supermann, dich meine ich.»
Frantisek drehte sich nicht einmal um. «Ich habe Hunger», sagte er leise.
«Dafürist jetzt keine Zeit», meinte Marthaler. «Ich setze euch am Weißen Haus ab. Ich fahre weiter zum Mainufer, um zu sehen,was mit Erkan Önal ist. Wir müssen ihn so schnell wie möglich vernehmen. Ihr verteilt bitte dieAufgaben und macht euch an die Arbeit. Nehmt Kontakt zu den Angehörigen der Opfer auf. Seht zu, dass ihr unsere beiden Kollegen aus Nordhessen erreicht – Kurt und Horst. Sie sollen sich fürs Erste auf die Ochsentour konzentrieren: rund um den Tatort sämtliche Häuser abklappern und jeden Bewohner fragen, ob ihm irgendwas aufgefallen ist. Wenn möglich, treffen wir uns am Nachmittag zu einer Besprechung.»
Vor dem Weißen Haus stoppte Marthaler den Wagen. Er bat Frantisek, noch einen Moment sitzen zu bleiben, dann wartete er, bis Döring und Liebmann ausgestiegen waren.
Marthaler reichte Frantisek seine rechte Hand. «Ich heiße Robert», sagte er. «Du hast gehört, dass ich die Ermittlungen leite. Wir besprechen alle gemeinsam, wie wir vorgehen. Wenn es zu keiner Einigung kommt, entscheide ich. Das heißt, es hat sich jeder an meine Weisungen zu halten. Das gilt auch für dich. Entweder wirst du Teil unseres Teams oder du bist draußen.»
Frantisek schaute mit feuchtenAugen aus dem Fenster. Seine Mundwinkel zuckten, aber er schwieg.
«Hast du das verstanden?», fragte Marthaler.
Der Riese schnaufte. Dann schüttelte er den Kopf und stieg aus. Zehn Minuten später hatte Marthaler dieAlte Brücke erreicht. Sie trug ihren Namen, weil sie die älteste im Frankfurter Stadtgebiet war – auch wenn sich im Laufe der Jahrhunderte ihrAussehen verändert hatte, weil sie immer wieder zerstört und neu aufgebaut worden war. Hochwasser und Eisgang hatten sie zum Einsturz gebracht. Im Dreißigjährigen Krieg war sie in Flammen aufgegangen und fast vollständig verbrannt, und noch am Ende desZweiten Weltkriegs hatte die deutsche Wehrmacht sie gesprengt, um den Einmarsch der Alliierten aufzuhalten. Dennoch war bereits drei Tage später die gesamte Stadt von den Einheiten der US-Armee besetzt worden.
Erst kürzlich hatte Marthaler gelesen, dass auf derAlten Brücke in früheren Zeiten immer wieder Hinrichtungen stattgefunden hatten. Man hatte die zum Tode Verurteilten an Armen und Beinen gefesselt und dann in den Fluss geworfen, wo sie ertranken. Ihre Leichen wurden von der Strömung mitgerissen und meist erst außerhalb des Stadtgebiets wieder an Land geschwemmt, sodass man sich um ihre Bestattung nicht kümmern musste.
Marthaler ließ seinAuto am Straßenrand stehen. Er stieg aus und näherte sich der Stelle, wo man vor kurzem mit dem Neubau eines kleinen Museums begonnen hatte. Das Gebäude wurde mitten auf der Maininsel errichtet und sollte imnächsten Jahr eröffnet werden. Man würde es von der Brücke aus über einen schmalen Metallsteg erreichen.
Marthaler betrat eine schmale Wendeltreppe, über die man die Insel erreichte. Die Treppe gehörte zum Clubhaus des «FrankfurterRuder-Vereins von 1865», das kurz nach dem Krieg unter einem der Brückenbögen errichtet worden war.
Die Insel war für die Öffentlichkeit gesperrt, weil sich dort ein kleines Schutzgebiet befand, wo zwischen den zahlreichen Pappeln und Weiden viele Vogelarten ihre Brutstätten und Rastplätze hatten.
Er lief in westlicher Richtung.Am Ende der Insel sah er eine Gruppe Leute stehen.Am Ufer hatten zwei Boote der Wasserschutzpolizei festgemacht. Marthaler nahm an, dass es sich um die Stelle handelte, wo man Erkan Önal gefunden hatte. Gerade war man dabei, den Körper des Verletzten auf eine Trage zu legen. Marthaler beschleunigte seinen Schritt.Als er fast
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