Partitur des Todes
geringste Ahnung, was zu diesem Verbrechen geführt hat. Es ist zu früh. Wir stehen erst ganz amAnfang; und es wäre falsch, schon jetzt über ein Motiv zu spekulieren.»
«Meinen Sie, es war ein Verrückter?»
Bevor er noch darüber nachgedacht hatte, schüttelte Marthaler den Kopf. «Nein», sagte er. «Ein Verrückter war es ganz bestimmt nicht. Da bin ich mir sicher. Ich habe schon viele Tatorte gesehen, aber noch keinen, wo alle Spuren so deutlich darauf hinweisen, dass der Täter sehr genau wusste, was er tat.»
Die junge Frau sah ihn an. «Ja, dasselbe habe ich auch gedacht.»
Marthaler streckte der Frau seine Hand entgegen, um sich zu verabschieden. «Auf Wiedersehen», sagte er. «Und: danke!»
Die Frau nickte: «Wissen Sie, dass Sie recht sympathisch sind? Eigentlich.»
Verdutzt sah Marthaler sie an. Dann errötete er. «Ich verstehe nicht…»
«Schon gut», sagte sie. «Das habe ich mir gedacht.»
«Was haben Sie sich gedacht?»
«Dass Sie mit Komplimenten nicht umgehen können.»
Sie ließ den Hauptkommissar stehen und ging zurück zu den anderen. Jetzt hätte er sie gerne nach ihrem Namen gefragt, aber dafür war es zu spät. Marthaler drehte sich um und machte sich auf den Weg zurAlten Brücke. Nach ein paar Metern blieb er stehen und schloss dieAugen. Erwollte sich einen Moment Zeit nehmen, um nachzudenken. Vielleicht hatte die junge Sanitäterin recht, vielleicht war es doch wichtig, sich schon jetzt eineVorstellung davon zu machen, was der Täter bezweckt haben mochte.Auch, wenn sie noch viel zu wenig wussten, auch, wenn sie nur spekulieren konnten. Marthaler nahm sich vor, das Thema auf der Sitzung am Nachmittag anzusprechen. Er wollte, dass jeder, der zur «SoKo Sultan» gehörte, eine These entwickelte, welches Motiv zu dem Verbrechen geführt haben könnte. Sie hatten gelernt, sich an die Fakten zu halten.Aber wenn es zu wenig Faktengab, mussten sie andereWege gehen, dann waren sie gezwungen, ihre Phantasie einzusetzen.
Plötzlich schreckte Marthaler zusammen. Er hatte ganz in der Nähe ein Geräusch gehört, zuerst ein Rascheln, dann ein Fauchen.
Im selben Moment spürte er einen heftigen Stoß gegen den rechten Oberschenkel. Er fuhr herum. Dann sah er es.
Hinter ihm war ein Höckerschwan aus dem Unterholz aufgetaucht, der sich in Kampfhaltung vor ihm aufgebaut hatte und der nun nochmals ansetzte, ihm miteiner seiner mächtigen Schwingen einen Schlag zu versetzen. Im letzten Moment gelang es Marthaler auszuweichen. Er sprang ein paar Meter zur Seite, um sich in Sicherheit zu bringen. Er sah, dass derVogel kehrtmachte und sich schwerfällig in Richtung Ufer bewegte, wo seine Jungen auf dem Wasser schwammen.
Marthalers Bein schmerzte, als er die Wendeltreppe hinaufstieg.
«Haben Sie das gesehen?», fragte er den Schutzpolizisten, der oben auf der Brücke stand und den Zugang absicherte. Der Uniformierte grinste. «Dabei ist es ein so schöner Vogel», sagte er.
«Ja», erwiderte Marthaler, «ein schönes Monster.» Vor Sultans Imbiss herrschte noch immer Hochbetrieb. Seit dem Morgen hatten die Kollegen der Spurensicherung ihre Suche auf weitere Teile des Mainufers ausgedehnt. Außerhalb derAbsperrung hatten sich inzwischen einige Hundert Gaffer eingefunden. Es schien, als sei die halbe Stadt auf den Beinen, um ihre Neugier zu befriedigen.
Überall streiften Zeitungsreporter und Kameraleute umher und versuchten, an neue Informationen zu kommen. Wenn ihnen das nicht gelang, interviewten sie irgendwelche Passanten und baten um Stellungnahmen zu dem Ereignis.AmAbend würden die hilflosen Wortmeldungen dann als «Stimmen aus der Bevölkerung» über alle Sender gehen. Und Marthaler wusste schon jetzt, dass das Entsetzen in den Gesichtern kaum von der Sensationslust zu unterscheiden sein würde. Wieder würde Frankfurt als «brutalste Metropole der Republik» Schlagzeilen machen und als «Hauptstadt des Verbrechens» bezeichnet werden. Sofort würde es Forderungen geben, die Gesetze zu verschärfen, mehr Überwachungskameras einzusetzen und den Zuzug von Ausländern zu begrenzen. Und der Druck auf die Ermittler würde mit jeder Stunde zunehmen.
Marthaler stand auf dem Uferweg, fingerte in seiner Jackentasche, zog das fast leere Päckchen mit den Mentholzigaretten hervor und steckte sich eine an. Er wartete, bis Walter Schilling sich am Eingang des Restaurantbootes zeigte, dann winkte er dem Chefder Spurensicherung zu.
«Nicht du schon wieder», rief Schilling.
«Ich muss mit dir
Weitere Kostenlose Bücher