Partitur des Todes
drehte den Verschluss auf und roch an dem Inhalt. Dann nahm sie einen Schluck.
Sie schaute sich um.Außer der Matratze – sie dachte: meiner Matratze–, einem alten Waschbecken und einer ebenso alten Toilettenschüssel war der Raum leer. Die rechte der beiden Türen war verriegelt. Es war eine schwere Tür aus rostfarbenem Metall mit einem großen Hebel. Sie legte ihr Ohr an das Metall und lauschte. Es war nichts zu hören. Außer den Geräuschen, die sie selbst verursachte, herrschte vollkommene Stille.
Valeriedurchquerte den Raum und versuchte es auf der anderen Seite.Auch die zweite Tür war verschlossen. Hinter ihr war ebenfalls kein Laut zu vernehmen. Sie ballte ihre rechte Hand zur Faust und hämmerte gegen das Metall.Als derLärm, den sie selbst verursacht hatte, verhallt war, rief sie um Hilfe. Sie hatte keine Hoffnung, dass man sie hören würde.
Sie überlegte, in was für einem Raum sie sich befand. Füreinen Keller war er zu groß. Vielleicht handelte es sich um eineArtLagerhalle. Oder um eine alte Fabrik.Aber warum sollte man eine Fabrik ganz ohne Fenster bauen? Und hätte es dann statt der Türen nicht große Tore geben müssen? Trotzdem hatte sie das Gefühl, schon einmal in einem solchen Raum gewesen zu sein.
Dann erinnerte sie sich. Vor einigen Jahren hatte sie eine Reportage über die Maginot-Linie geschrieben, jene Befestigungsanlage, die sich über die gesamte Länge der deutsch-französischen Grenze erstreckte. Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges hatte die Regierung in Paris das riesige Bauvorhaben in Auftrag gegeben, das die Franzosen vor einem neuerlichen Angriff ihrer deutschen Nachbarn hatte schützen sollen. Valerie war ins Elsass gefahren, wo sie eines der alten unterirdischen Forts besichtigt und dessen ehemaligen Kommandanten interviewt hatte. Ähnlich wie hier, in ihrem Gefängnis, hatte es auch dortausgesehen. Und es hatte genauso gerochen: feucht, muffig und nach verrostetem Metall.
Jetzt war sie sich sicher: Sie befand sich in einem Bunker.Unter der Erde. Man hat mich in einen Bunker gesperrt, und niemand weiß, wo ich bin, dachte sie. Nicht einmal ich selbst weiß, wo dieser Bunker sich befindet. In einer Stadt? Im Wald? In Deutschland oder Frankreich? Und selbst, wenn ich es wüsste, hätte ich keine Möglichkeit, Hilfe zu holen.
Achtzehn
Das Geräusch kam aus weiter Ferne. Und es wiederholte sich in gleichmäßigen Abständen immer wieder. Dann war es ruhig.
Aber schon nach kurzer Zeit hörte Marthaler es erneut. Endlich begriff er, dass es sein Telefon war. Langsam wurde er wach. Er schlug die Augen auf. Durch den Spalt zwischen den beiden Hälften des Vorhangs drang helles Sonnenlicht in den Raum. Tereza war bereits aufgestanden.
Er fuhrsich mit den Händen durchs Gesicht und schauteauf den kleinen Funkwecker, der neben ihm auf dem Nachttisch stand und den er vergessen hatte zu programmieren. Es war Viertel nach zehn. Er hatte so gründlich verschlafen wie seit Jahren nicht mehr. Mit einem Satz sprang eraus dem Bett.
Er ging ins Wohnzimmer und zog das Telefon unter der aufgeschlagenen Rundschau hervor, die Tereza dort gestern hatte liegen lassen. Er drückte den grünen Empfangsknopf, vergaß aber, sich zu melden.
«Robert, bist du dran?»
«Mama, ja, entschuldige. Ich bin gerade erst aufgewacht. Ich bin noch ganz…»
«Soll ich später nochmal…»
«Nein, lass nur. Es ist schön, deine Stimme zu hören. Wie geht es euch?»
Er merkte, dass seine Mutter zögerte.
«So weit ganz gut», sagte sie.
Sofort war Marthaler alarmiert. Seine Eltern klagten nie. Er war es gewohnt, sich keine Gedanken um sie machen zu müssen. Sie waren gesund, und sie waren das glücklichste Paar, das er kannte.
«So weit?», fragte er. «Also geht es euch nicht gut?»
«Wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Ich habe schon ein paar Mal versucht, dich anzurufen, aber dichnie erreicht. Wir haben gelesen, was passiert ist.»
«Ja», sagte er.
«Bist du in Gefahr?»
«Nein, Mama, ich bin nicht in Gefahr. Es ist nur sehr vielArbeit. Und ich bin spät ins Bett gekommen.»
«Der das gemacht hat…»
«Ja?»
«Wer so etwas macht», sagte seine Mutter, «das ist nicht einfach ein Mörder, oder?»
«Ein Mörder ist er schon.Aber ich glaube, ich weiß, was du meinst…»
«Ich meine, das ist ein durch und durch böser Mensch. Für so jemanden gibt es überhaupt keine Grenzen.»
«Ja», sagte Marthaler, «das ist zu befürchten.»
«Werdet ihr ihn bald haben?»
Marthaler
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