Partitur des Todes
verschwunden.
Dann explodierte etwas über Marthalers Kopf.
Für einen Moment schien sein Herz auszusetzen, dann begann es wie rasend zu klopfen. Er brauchte ein paar Sekunden, um zu wissen, wo er war. Wie erstarrt saß er hinter dem Steuer seines Dienstwagens. Er öffnete die Lider nur halb.Aus demAugenwinkel konnte er erkennen, dass in der Dunkelheit jemand neben der Fahrertür stand. Michael Helmbrecht war doch noch aus seinerWerkstatt gekommen. Erhatte den in seinem Wagen schlafenden Marthaler gefunden und mit der Faust auf dasAutodach geschlagen.
Marthaler tat, als habe er nichts davon bemerkt, als würde er immer noch schlafen. Ohne den restlichen Körper zu bewegen, hob er seine linke Hand und legte sie auf den Türgriff. Er atmete ein paar Mal durch.
Dann stieß er die Tür mit einem Ruck auf und warf sich mit seinem vollen Gewicht dagegen.
Michael Helmbrecht stöhnte auf. Er taumelte und ließ sich zu Boden fallen. Mit beiden Händen hielt er seinrechtes Schienbein umklammert. Mit einem Satz sprang Marthaler aus dem Wagen. Dann packte er Helmbrecht von hinten und legte den Arm um dessen Hals.
«Eine Bewegung und ich drücke zu», keuchte Marthaler.Noch immer saß ihm der Schreck so tief in den Gliedern, dass er kaum zu sprechen vermochte.
«Verdammt.» Der andere wimmerte. «Verdammt nochmal, du hast mir das Bein gebrochen.»
Marthaler zog seine Dienstwaffe aus dem Holster. Ohne sie zu entsichern, richteteer sie auf Helmbrechts Kopf: «Steh auf! Stell dich mit dem Rücken zu mir an den Wagen!
Und wehe, du muckst.» Als der andere versuchte aufzustehen, brüllte er wie ein verletztes Tier. Marthaler stand jetzt zwei Meter entfernt. Er sah, dass in den umliegenden Häusern einige Lichter
angingen. Jemand öffnete ein Fenster. «Was soll der Krach da unten?», rief eine Frauenstimme. «Holen Sie die Polizei!», rief Marthaler. «Wählen Sie den Notruf, schnell!» Helmbrecht lag noch immer auf dem Boden. Er wand sichvor Schmerzen. Wahrscheinlich stimmte es, wahrscheinlich hatte Marthalerihm das Schienbein gebrochen.
«Wo waren Sie gestern Abend?»
«Ich brauche einen Arzt, verdammt nochmal.»
«Sie bekommen einenArzt.Aber erst will ich eineAntwort auf meine Frage. Wo sind Sie gestern in den Stunden vor Mitternacht gewesen?»
«Was soll der Mist? Was geht’s dich an, wo ich war? Ich war in meiner Werkstatt.»
«Zeugen?»
«Scheiße, Zeugen. Natürlich gibt es Zeugen. Es waren zwei Kunden da.»
«Namen?»
«Die Namen kannst du dir an den Hut stecken. Deine grünen Kollegen waren nämlich auch da. Weil dieAlte aus dem Vorderhaus sich wieder beschwert hat. Frag sie! Sie hat die ganze Zeit am Fenster gestanden.»
Im selben Moment bog ein Streifenwagen in die Zufahrt.Das Blaulicht war eingeschaltet. Die beiden Polizisten stiegen aus.Alssie Marthalers Pistole sahen,griffen sie zu ihren Dienstwaffen.
Marthaler hielt seine Marke hoch. «Kripo, Mordkommission», rief er. «Der Mann hier ist vorübergehend festgenommen. Schafft ihn ins Präsidium. Er verbringt die Nacht bei uns. Morgen früh wird er vernommen.» Eine halbe Stunde später betrat Marthaler seine Wohnung im Großen Hasenpfad. Vorsichtig öffnete er die Tür zum Schlafzimmer. Tereza lag in ihrem Bett und schlief. Er ging in die Küche, nahmeine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, entfernte den Kronkorken und nahm einen ersten Schluck im Stehen.
Im Wohnzimmer ging er zum Regal, zog die CD mit Rory Gallaghers «Irish Tour» heraus und wählte seinen Lieblingstitel, den er seit vielen Jahren nicht mehr gehört hatte: «Million Miles away», das Lied eines Mannes, der sich so einsam fühlt wie ein Stück Treibholz im Wasser. Jetzt summte Marthaler mit, alsGallaghers traurige Stimme leise aus den Lautsprechern drang.Als das Stück zu Ende war, drückte er die Wiederholtaste.
Er ließ sich in den Sessel fallen und schloss dieAugen. Was ist nur mit mir los, dachte Marthaler. Ich habe einen Beruf, in dem ich ausreichend Geld verdiene. Ich bin gesund. Ich habe Kollegen, mit denen ich mich im Großen und Ganzen gut verstehe. Nebenan liegt die Frau, die ich liebe. Mir geht es besser als neunzig Prozent aller anderen Menschen. Trotzdem bin ich traurig.
Ich bin traurig, aber ich bin nicht einmal mehr in der Lage zu weinen. Etwas hat sich geändert, und ich weiß nicht, was. Ich komme nicht einmal mehr dazu, darüber nachzudenken. Vielleicht sind es die Toten. Ihre Zahl steigt von Jahr zu Jahr. Und jetzt sind noch einmal fünf dazugekommen. Zu viele,
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