Partitur des Todes
wollte seiner Mutter keineAntwort geben, wie er sie den Journalisten gegeben hätte. Er wollte sie nicht mit Floskeln abspeisen.Also blieb ihm nur,die Wahrheit zu sagen: «Ich weiß es nicht, Mama. Ich weiß es wirklich nicht.»
«Du passt auf dich auf, ja…? Und wie geht es Tereza?»
Marthaler schwieg einen Moment zu lange.
«Sie ist schon weg. Sie hat viel zu tun.» Kaum hatte er diese beiden Sätze gesagt, schon ahnte er, dass sie das Misstrauen seiner Mutter hatten wecken müssen.
«Robert, du machst doch keinen Unfug? Du behandelst sie doch gut, oder?»
«Ja, das tue ich.Aber ich habe das Gefühl, dass wir uns mal wieder aussprechen müssen.»
«Mach keinen Fehler», ermahnte ihn seine Mutter noch einmal. «Du wirst nicht jünger. Ein so gutes Mädchen wirst du so leicht nicht wieder finden.»
«Ich weiß, Mama. Ich arbeite dran.»
«Vielleicht solltet ihr endlich heiraten. Vielleicht fehlt ihr das. Frauen sind da anders…»
«Mama, bitte!»
«Ist gut. Ich bin ja schon still. Ich wollte nur hören, ob es dir gut geht. Ich soll schön von Papi grüßen.»
«Danke. Gib ihm einen Kuss von mir… Und bei euch ist wirklich alles in Ordnung?»
«Du meldest dich mal. Ja?»
«Versprochen!», sagte er wie immer. Zehn Minuten brauchte Marthaler fürseine Morgenwäsche. Während des Telefonats mit seiner Mutter hatte er zwei Scheiben Brot aus dem Tiefkühlfach genommen und in den Toaster gesteckt. Jetzt fluchte er, als er merkte, dass er vergessen hatte, neue Orangenmarmelade zu kaufen. Dann wollte er sich einen Espresso kochen, stellte aber fest, dass die Kaffeebohnen ebenfalls aufgebraucht waren.
Verdammter Mist, dachte er, wie soll man arbeiten, wenn man nicht einmal mehr dazu kommt, ordentlich zu frühstücken.
Er schnallte das Holster mit seiner Pistole um, zog sein Jackett über, steckte seinen Schlüsselbund ein und verließ die Wohnung.Als die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel, überlegte er, wo er in der Nacht den Dienstwagen abgestellt hatte. Es fiel ihm nicht ein. Er erinnerte sich, dass er keinen Parkplatz in der Nähe des Hauses gefunden hatte, dass er mehrere Runden durch die umliegenden Straßen gefahren war.Aber wo er schließlich ausgestiegen war, das hatte er vergessen.
Einen Moment dachte er daran, sein Fahrrad aus dem Keller zu holen, erinnerte sich aber, dass er noch immer nicht dazu gekommen war, den Schlauch des Hinterreifens zu flicken. Er beschloss, zu Fuß ins Lesecafé zu gehen und von dort aus die U-Bahn zu nehmen. Er lief den Großen Hasenpfad hinab und überquerte die Mörfelder Landstraße. Bevor er den Durchgang zum Südbahnhof erreichte, sah er neben dem Schaufenster einer Bäckerei eine Frau auf dem Boden sitzen. Sie hatte dunkle Haare und trug einen langen Rock. In ihrenArmen lag ein Kleinkind, das zu schlafen schien.Die Frau reckte den Passanten ihre Hand entgegen und bat mit klagendem Ton um ein wenig Geld. Neben ihr lag ein Pappschild mit derAufschrift: «Hunger, bitte, danke!» Marthaler kramte in seiner Hosentasche, förderte eine Zwei-Euro-Münze zutage und legte sie der Frau auf die Handfläche. Eine Sekunde später war das Geld bereits verschwunden. Er zwang sich, der Frau in dieAugen zu schauen, und wünschte ihr einen schönen Tag, aber ihr Blick blieb verdeckt. «Danke, danke, danke», sagte sie, und auch diese Worte hörten sich an wie ein Klagelied, das ebenso gut an niemanden wie an die ganze Welt gerichtet sein konnte.
In der alten Bahnhofshalle war es kühl. Die Wände waren mit grünen und türkisfarbenen Kacheln bedeckt.Am Zeitungskiosk kaufteMarthaler eine Schachtel Mentholzigaretten und eine Rolle mit Pfefferminzbonbons.
«Ihr Bild war in der Zeitung», sagte der Verkäufer, der sich in seinen rechten Augenwinkel eine Knastträne hatte tätowieren lassen. «Habt ihr den Türken schon geschnappt?»
Kurz war Marthaler versucht, den Mann am Kragen zu packen und aus seiner Luke zu zerren.Am liebsten hätte er ihn angeschrien.Stattdessen schüttelte er den Kopf und ging wortlos davon. Er nahm sich vor,seine Zigaretten künftig woanders zu kaufen.
Als er auf den Diesterwegplatz trat, merkte er, wie warm es bereits war. Zwei Rentner, die neben ihm gingen,stöhnten über dieHitze.Nicht weit entfernt stand eine Gruppe Schülerinnen, die sich gegenseitig mit Wasser aus bunten Plastikflaschen erfrischten. Immer wieder hörte man eines der Mädchen kreischen.
Marthaler überquerte den Platz und lief in die Diesterwegstraße. Fünf Minuten später bog er
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