Partitur des Todes
könnte glatt neidisch werden.»
Dann zeigte der Film einen größeren Ausschnitt: Das Gesicht der Frau war jetzt links im Bild, von hinten näherte sich ihr ein Mann, der zwei Teller trug.
«Sag nicht, dass das Erkan Önal ist», fragte Marthaler.
«So ist es. Die beiden haben ihren Hochzeitstag in Sultans Imbiss ausklingen lassen. Und zwar genau an jenemAbend, als der Mord geschehen ist.Achtet bitte jetzt darauf, was Önal macht!»
Man sah, wie der Türke die Teller abstellte, und hörte, wie er seinen Gästen einen guten Appetit wünschte. Dann drehte er sich zum Fenster und schaute hinaus. Was er dort bemerkte, war auf dem Film nicht zu sehen.
«Das Video ist vom Heck aus aufgenommen. Önal schaut also nicht aufs Wasser, sondern auf den Uferweg.»
«Und?», fragte Döring. «Warum sollten wir darauf achten?»
«Ich zeige es euch nochmal», sagte Liebmann. «So… hier… Schaut euch sein Gesicht an. Önal runzelt ganz leicht die Stirn. Er wirkt besorgt. Und er schaut genau in Richtung der Bank.»
«Ja», sagte Marthaler, «das würde sich mit derAussage von Önals Frau decken, die ja von seinemAnruf berichtet hat. Er hat ihr amTelefon erzählt, dass in der Nähe des Bootes seit Stunden ein komischer Typ herumlungerte.»
Wieder meldete sich Liebmann zu Wort: «Passt auf, was jetzt passiert!»
Die Kamera machte einen langsamen Schwenk nach rechts und folgte dem Blick Erkan Önals. Durch das Fenster des Restaurantbootes erkannte man das Mainufer. Noch immer waren Spaziergänger unterwegs. Tatsächlich sah man wieder den Mann auf der Bank sitzen. Im selben Moment, als die Kamera ihn erreichte, hob er eine Zeitung, die seinen Kopf verdeckte.
«Das darf doch nicht wahr sein», sagte Marthaler. «Es ist wie verhext.»
«Komm, du Arsch, zeig uns dein Gesicht», rief jemand aus der Dunkelheit.
«Er tutuns den Gefallen nicht»,sagte Liebmann. «Auf keiner derAufnahmen, diewir haben, ist er zu erkennen. Entweder sehen wir ihn von hinten, oder er dreht sich weg. Oder er verbirgt sich wie hier hinter einer Zeitung. Das kann kein Zufall sein. Wir müssen davon ausgehen, dass er peinlichst darauf geachtet hat, weder gefilmt noch fotografiert zu werden.»
«Also ein Profi», meldete sich Kurt Delius zu Wort.
«Jedenfalls ein umsichtiger Mensch», erwiderte Kerstin Henschel. «Dass er der Mann ist, den wir suchen, daran kann es keinen Zweifel mehr geben. Jemand, der nichts zu verbergen hat, würde sich nicht solche Mühe machen, unerkannt zu bleiben.»
Sven Liebmann unterbrach das Gespräch und bat noch einmal umAufmerksamkeit.
«So, hier endet die erste Szene. Wir dürfen annehmen, dass die beiden Eheleute ihr Essen einnehmen. Was nun kommt, ist später aufgenommen. Unser Kameramann steht jetzt vor der Küchentür und filmt den Gastraum. Draußen ist es fast dunkel; das Innere des Bootes ist erleuchtet. Draußen auf dem Weg kommen kaum noch Leute vorbei.»
Das erste Bild zeigte einen korpulenten Mann, der von der Seite aufgenommen war. Ihm gegenüber saß eine Frau, die kurz in die Kamera schaute. Nun drehteauch der Dicke für eine Sekunde seinen Kopf, sodass man sein Gesicht sehen konnte.
«Das gibt’s doch gar nicht», rief Marthaler aufgeregt, «das ist Morlang, Joachim Morlang. Dann muss die Frau die Französin sein.»
«Ja», sagte Liebmann, «die Pariser Redaktion von arte hat uns inzwischen ein Foto von Valerie Rochard gemailt. Es ist dieselbe Frau. Wir sehen auf diesem Film sämtliche späteren Opfer friedlich ihr letztes Essen einnehmen.»
Tatsächlich kamen gleich darauf die Köpfe von Elfriede Waibling und Franz Helmbrecht ins Bild. Die beiden Rentner saßen an ihremTisch und hielten einander bei den Händen.Auch sie lächelten kurz in die Kamera.
«Wenn die beiden jetzt gegangen wären, verbrächten sie heute irgendwo gemeinsam ihren Urlaub», sagte Kerstin Henschel. Dann zeigte sie auf die Leinwand. «Ah, und schaut mal, wen wir hier haben: den Staatssekretär Urban auf Dienstreise mit seinerAssistentin.»
Die nächste Einstellung zeigte Susanne Melzers Hinterkopf und einen Teil ihres Rückens.Als Gottfried Urban bemerkte, dass die Kamera auf ihn gerichtet wurde, schüttelte er den Kopf. Er hob den Zeigefinger und machte eine verneinende Geste.
«Okay», sagte Liebmann, «das waren die Aufnahmen, die unser Kameramann an Bord gemacht hat. Es gibt noch eine letzte Sequenz, die er außen aufgenommen hat. Wieder sehen wir seine Frau; sie wird von einer kleinen Filmlampe beleuchtet. Wieder sind
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