Partitur des Todes
Rouleau de Printemps wegen Krankheit geschlossen war.
«Macht nichts», hatte Mademoiselle Blanche gesagt und stattdessen bei einem der arabischen Metzger am Boulevard de Belleville ein Stück Rindfleisch gekauft, aus dem sie nun ein Bœuf Bourgignon zubereitete. Sie zerkleinerte Sellerie, Lauch und Zwiebel, warf alles in den großen Bräter, in demdas Fleisch bereits Farbe angenommen hatte, ließ das Gemüse noch einen Moment mitbraten und löschte dann alles mit Rotwein ab.
Monsieur Hofmann hatte gar nicht erst gefragt, ob er ihr zur Hand gehen solle, da er wusste, dass sie ein solches Angebot mit großer Bestimmtheit abgelehnt hätte. Bei den wenigen Malen, die sie in den vergangenen Jahrzehnten versucht hatten, gemeinsam zukochen, waren sie sich nach kurzer Zeit soheftig in die Haare geraten, dass die Tage jedes Mal mit einer nachhaltigen Missstimmung geendet hatten. Sie schnitt die Zwiebeln nicht klein genug, er ließ das Fett zu heiß werden, und beide mochten nicht, wie der andere die Kartoffeln schälte. So hatten sie irgendwann beschlossen, dass jeder in seiner eigenen Wohnung für die Bewirtung des anderen allein zuständig war.
Darüber hinaus war Mademoiselle Blanche froh, die Zeit in der Küche für sich zu haben, da Monsieur Hofmann die letzten Tage und Nächte bei ihr verbracht hatte, um, wie er sagte, den Reportern aus dem Weg zu gehen, die an der Place Nadaud vor seiner Haustür lungerten und ihn immer wieder nach seiner Vergangenheit und nach demGeheimnis einer Sommernacht befragen wollten.
Allerdings ahnte sie, dass er noch einen anderen Grund hatte, den er aber weder ihr noch sich selbst eingestehen wollte. Sein öffentliches Bekenntnis zu seiner Herkunft hatte ihn so nachhaltig erschüttert, dass er nicht alleine sein wollte, dass er der Gegenwart Mademoiselle Blanches bedurfte wie nie zuvor in den Jahren ihres Zusammenlebens. Gemeinsam waren sie vorgestern mit der Metro zur Place de Clichy gefahren, hatten den Friedhof Montmartre betreten, waren an der hingestreckten Gestalt von Alexandre Dumas, an der weißen Büste Heinrich Heines und an dem unscheinbaren Grabstein François Truffauts vorbeigekommen und hatten schließlich, nach einigem Nachfragen, auch jene Stelle gefunden, an der man Jacques Offenbach vor über hundertundzwanzig Jahren beerdigt hatte. Sie hatten sich unter dem ebenso herrisch wieschwermütig dreinblickenden Bronzekopf des Komponisten fotografieren lassen und waren dann weitergezogen ins Marais, in jenes Viertel nördlich der Seine zwischen Beaubourg und Boulevard Beaumarchais, das früher ein ausgedehntes Sumpfgebiet gewesen, später zu einer bevorzugten Wohngegend des PariserAdels geworden war, das aberzu allen Zeiten von Juden aus der ganzen Welt bevölkert wurde und inzwischen das größte jüdische Viertel Europas war.
Sie waren an einigen Synagogen vorbeigekommen, hatten die Schaufenster der koscheren Geschäfte und Restaurants betrachtet, und schließlich hatte Monsieur Hofmann in einer grünen Holzkiste vor einem derAntiquariate ein Buch gefunden, dessen Titel sosehr seiner eigenen Stimmung entsprach, dass eres sofort zur Hand nahm, um die Inhaltsangabe zu lesen. Es hieß «Wenn die Erinnerung kommt» und stammte von einem gewissen Saul Friedländer, einem Kind deutschsprachiger Juden, dessen Familie auf der Flucht vor den Nazis nach Frankreich gekommen war.
Monsieur Hofmann war in den Laden gegangen, hatte das Buch bezahlt und noch in der Metro mit seiner Lektüre begonnen. Er hatte die halbe Nacht und den ganzen gestrigen Tag auf Mademoiselle Blanches Sofa gesessen und die Geschichte jenes Saul Friedländer gelesen, der etwa im selbenAlter war wie er selbst, der unter falschem Namen in einem katholischen Internat in derAuvergne überlebt hatte, dessen Eltern aber von den Deutschen aus Frankreich deportiert und schließlich inAuschwitz ermordet worden waren.
Immer wieder setzte Monsieur Hofmann während der Lektüre sein eigenes Leben mit dem des Herrn Friedländer in Beziehung, wobei er einige Gemeinsamkeiten und viele Unterschiede feststellte, ohne dass erhätte sagen können, was ihn mehr interessierte.Als er das Buch zu Ende gelesen hatte, wurde ihm zum ersten Mal klar, dass die Journalistin Valerie Rochard recht gehabt hatte. Sein Leben würde sich verändern. Nicht alles, aber manches. Und einiges hatte sich bereits verändert. Es hatte angefangen mit dem Fernsehinterview, in dem er Dinge über sich erzählt hatte, über die nie zuvor ein Wort über
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