Partitur des Todes
dicken Steinmauern der Untermainbrücke stand eine alte Frau. Sie hatte die Arme geöffnet und wartete auf ein kleines Mädchen, das ihr entgegenlief.
«Und?», fragte Kai Döring. «Was sagt uns das?»
«Wenn ihr richtig hinschaut, seht ihr oben auf der Brücke eine Gruppe Leute stehen. Links neben der Gruppe ein einzelner Mann, der uns den Rücken zukehrt. Wenn ihr mich fragt, könnte er das sein.»
«Oder du oder ich oder der Polizeipräsident.»
«Tut mir leid, Kai, wenn ich dich langweile. Ich hab die Fotos nicht gemacht, ich zeige sie euch nur.»
Marthaler wurde hellhörig. Er bemerkte zum wiederholten Mal, dass der Ton zwischen Liebmann und Döring in den letzten Tagen gereizter geworden war. Obwohl er sich nur ungern in die privaten Beziehungen seiner Mitarbeiter einmischte, beschloss Marthaler, die beiden Freunde darauf anzusprechen. Wenn sie etwas miteinander auszutragen hatten, war das ihre Sache. Dennoch sollte darunter nicht dieAtmosphäre der gemeinsamen Sitzungen leiden.
«Gut», sagte Liebmann. «Verkürzen wir das Ganze. Es gibt noch eine Reihe ähnlicher Bilder: ein schwarzgekleideter Mann, oder besser: Teile von ihm, von hinten, meistens aus der Ferne, meistens unscharf.Als Fahndungsfoto taugt keine dieserAufnahmen. Wir können noch nicht einmal sicher sein, dass es sich jedes Mal um dieselbe Person handelt. Überlassen wir dieAnalyse unseren Fachleuten an den Computern. Trotzdem gibt es noch ein paar Dinge, die ich euch zeigen will.»
Als Nächstes führte er ihnen einen kurzen Film vor, der mit einer Handy-Kamera gedreht war. Die Qualität war miserabel, aber alle sahen aufmerksam auf die Leinwand.
Ein junger Mann mit ärmellosem T-Shirt wiegte seinen Kopf hin und her und streckte die Zunge heraus. In der rechten Hand hielt er eine Bierflasche. Dann zog er sein T-Shirt hoch. Die Kamera umkreiste ihn, sodass man die Schlange sehen konnte, die rund um Bauch, Hüften und Rücken tätowiert war. DerJunge machte die Bewegungen einer Bauchtänzerin, sodass man den Eindruck haben konnte, die Schlange bewegte sich. Nach zehn Sekunden war der Film bereits wiederzu Ende.
Als niemand im Raum reagierte,zeigte Sven Liebmann die kurze Sequenz ein zweites Mal. Etwa nach fünf Sekunden verlangsamte erdasAbspieltempo. Der Junge tanzte jetzt in Zeitlupe.
«Jetzt!», sagte er. «Achtet auf den Hintergrund rechts neben dem Schlangentänzer!»
Schemenhaft sah man den schwarzgekleideten Mann fürzwei Sekunden auf seiner Bank sitzen. Zum ersten Mal sah man ihn ganz und von vorne. Trotzdem konnte man sein Gesicht nicht erkennen. Es war nicht mehr als ein heller Fleck in einer dunklen Umgebung.
«Verdammt», sagte Kerstin Henschel, «das wäre es gewesen.»
«Ja.Aber leider hatte zu diesemZeitpunkt schon die Dämmerung eingesetzt. Das Tageslicht war bereits zu schwach, und das Objektiv des Handys hat mehr nicht hergegeben.»
«Meint ihr, da lässt sich noch etwas herausholen?», fragte Marthaler.
«Eher unwahrscheinlich», antwortete Liebmann. «Ich habe das Video einem unserer Techniker gezeigt. Er war skeptisch, will es aber versuchen.»
«Gibt es irgendwelche Schlüsse, die wir aus dem, was wir gesehen haben, ziehen können?»
«Warte, Robert. Ich bin noch nicht fertig. Wie ihr euch denken könnt, habe ich mir das Beste bis zum Schluss aufgehoben. Was ihr jetzt seht, ist mit einem wirklich guten Camcorder und mit einem lichtstarken Objektiv aufgenommen worden. Der Mann, der das Filmchen gedreht hat, hat uns am Mittag angerufen. Er und seine Frau haben vorgestern ihren fünften Hochzeitstag gefeiert. Sie wohnen und arbeiten in Seligenstadt. Beide haben sich den Nachmittag freigenommen, sind nach Frankfurt gefahren und haben sich abends ein Essen gegönnt. Glücklicherweise versteht der Mann sowohl etwas von der Technik als auch von Kameraführung.»
«Okay, Baby», hörte man Kai Döring, «spann uns nicht auf die Folter. Lass einfach abrollen.»
In Großaufnahme erschien das Gesicht einer Frau auf der Leinwand. Ein wenig verlegen lächelte sie in Richtung der Kamera. Immer wieder schlug sie die Augen nieder oder legte den Kopf zur Seite, sodass ihr eine Haarsträhne übers Gesicht fiel. Dann spitzte siedie Lippen und schickteeinen Kuss in Richtung ihres Mannes. Kurz darauf streckte er seinen linken Arm aus und streichelte ihr mit dem Handrücken über die Wange.
«Fünf Jahre», sagte jemand, «und immer noch so verliebt. Nicht schlecht.»
«Ja», kam es aus einer anderen Ecke des Raums, «man
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