Partnerschaft und Babykrise
davon aus, dass Ingeborg das ebenso sieht und ihr Absetzen der Pille eindeutig sagt, dass sie nichts mehr von ihm wissen will.
Durch die verunsichernde Identifizierung mit dem »falschen« Elternteil sind Ingeborg und Karl darauf angewiesen, vom Gegenüber ausdrücklich als Frau bzw. Mann bestätigt zu werden, um die unbewussten Ängste auszugleichen, nicht »richtig« zu sein. Seit Karl Ingeborg nicht mehr als ganz besonders weibliche Frau anerkennt und sie ihn nicht mehr als besonders liebevollen Mann feiert, fehlen beiden Energie und Entschlusskraft, erotisch aktiv zu werden. Sie warten auf das Begehren des jeweils anderen, fühlen sich davon abhängig, sind enttäuscht, dass sie es nicht erhalten und deshalb auch selbst nichts tun können.
Der Verlust der symbiotischen Prothese lässt die Partner ratlos zurück. Zu Beginn wird fast nur die unbarmherzige Zumutung wahrgenommen, dass eine für unentbehlich gehaltene szenische Bestätigung einfach ausbleibt. Angesichts der eigenen destruktiven Wut und der Impulse, sich sofort zu trennen und den Partner radikal zu entwerten, signalisiert die Müdigkeit eine gut entwickelte Abwehr, die es zunächst
einmal auf Zeitgewinn abgesehen hat und das Selbstgefühl der Eheleute schont, so gut es eben geht.
Offene Konflikte belasten mehr, enthalten aber auch mehr Chancen für eine Veränderung. Es gibt Fälle, in denen der enttäuschende Partner derart unerträgliche Ängste vor der eigenen Wut auslöst, dass sich die Betroffenen um fast jeden Preis sofort von ihm trennen wollen. Wenn eine junge Mutter lieber von der Sozialhilfe lebt als mit dem Vater ihres Kindes über einen Beitrag zur Versorgung des Babys zu verhandeln, haben die Dämonen der Symbiose wieder Beute gemacht.
Die Unsichtbarkeit symbiotischer Verbindungen ist einer der Gründe, warum die Theorie einer genetischen Ursache von Depressionen so beliebt ist. In einer individualisierten Kultur ist die fortbestehende, kindliche Abhängigkeit Erwachsener tabuisiert. Gleichzeitig ist die prothetische Versorgung dieser Abhängigen ein Motor der Wirtschaft.
Es profitiert die pharmazeutische Industrie durch die Produktion von beruhigenden und antidepressiven Mitteln. Die Güterproduktion reagiert auf die Individualisierung und beschwört den symbiotischen Appeal der Waren. Sie verspricht, nicht Kosmetika, Autos oder Mobiltelefone zu verkaufen, sondern Lebensgefühle und Beziehungssurrogate. Um die Belastungen einer modernen, individualisierten Ehe durch den Kinderfall zu verstehen, müssen wir den Symbiosekomplex genauer untersuchen.
2.
DER SYMBIOSEKOMPLEX
Das Wort Symbiose kommt aus der Biologie. Es bezeichnet das Zusammenleben von Organismen unterschiedlicher Arten, das für einen oder beide Partner nützlich ist. Amerikanische Autoren verwenden »Symbiose« für alle Formen des Zusammenlebens bis hin zum Parasitismus. Im Gegensatz dazu bezeichnet »Symbiose« in Europa ausschließlich das Zusammenleben zweier Arten zum wechselseitigen Nutzen. Bäume und Sträucher müssen durch Insekten bestäubt werden, die sie mit Nektar »entlohnen«. Meerestiere leben mit Photosynthese betreibenden Zooxanthellen zusammen. Magen- und Darmbakterien ermöglichen Wiederkäuern den Aufschluss zellulosereicher Pflanzennahrung.
Biologen unterscheiden die Symbioseformen nach dem Grad der wechselseitigen Abhängigkeit:
Beide Arten ziehen zwar einen Vorteil aus dem Zusammenleben, sind aber ohne einander gleichwohl lebensfähig (Protokooperation).
Eine Art genießt einen Vorteil, ohne dass die andere einen erkennbaren Nachteil hat (Kommensalismus). Geier fressen die Reste eines Beutetiers, sobald der Löwe satt ist.
Die Partner sind alleine nicht mehr lebensfähig (Eusymbiose). So kultivieren Blattschneiderameisen in ihrem Bau Pilze, von denen sie sich ernähren, die Pilze wiederum können sich ohne die Ameisen nicht mehr vermehren.
In der Psychologie ist mit Symbiose sowohl die innige Abhängigkeit von Mutter und Kind gemeint wie die enge psychologische Verbindung zwischen Menschen, die ohne einander nicht sein können
Symbiosepartner sind einander Selbstobjekte. Solange sie zusammen sind, festigen sie einander ihr Selbst, die innere Struktur, welche das Selbstgefühl (den Narzissmus) trägt. Sie können im Extremfall einander vollständig in allen sozialen und erotischen Bedürfnissen versorgen. Je weniger Trennung eine Symbiose verträgt, desto stärker erschwert sie andere Beziehungen und vergrößert dadurch die Abhängigkeit der
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