Partnerschaft und Babykrise
Individuum auf; ebenso die individualistische Philosophie (Descartes).
Diese Prozesse erreichten zunächst nur kleinere Bevölkerungsgruppen.
Aber seit dem 19. Jahrhundert garantierten die europäischen Industriestaaten mehr und mehr die physische und soziale Sicherheit ihrer Mitglieder. Die neuen Gesetzbücher (allen voran der code civil Napoleons) beziehen sich auf Individuen, nicht auf Familien oder Dorfgemeinschaften. Dies verlagert die Wir-Ich-Balance zugunsten der Ich-Identität. 15
Individualisierung schafft nicht nur Freiheiten, sondern auch Zwänge: Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, Entscheidungen zu treffen, sich schuldig zu fühlen, wenn eine Entscheidung falsch war. Die Symbiose mit dem Liebespartner spielt eine zentrale Rolle in der Kompensation der emotionalen Überforderungen durch diese Entwicklung. Gleichzeitig destabilisiert sie aber auch die Kontakte. Sie individualisiert Kränkungen und schreibt sie einem Liebespartner zu, der »kein Verständnis hat!«
Wenn sich in einem Dorf des 17. Jahrhunderts ein Bauer nicht normgerecht verhielt, z.B. zu viel Alkohol trank und seinen Hof vernachlässigte, dann lag es nicht an der Bäuerin, zu entscheiden, ob sie sein Versagen deckte oder sich von ihm trennte. Es war Sache der Gemeinschaft, vor allem der beiden beteiligten Familien, welche auch die Ehe arrangiert hatten.
Während Menschen früher lebenslang an Familie, Sippe oder Stamm gebunden waren, können sie heute über ihre Beziehungen selbst entscheiden – und müssen dies auch tun. Die Gesellschaften auf dem Globus stehen gegenwärtig auf
ganz unterschiedlichen Entwicklungsstufen. Sie sollen zu einer »Menschheit« werden, fordert der Zivilisationsforscher Norbert Elias. 16
3.
INSTABILE KERNE DES SELBSTGEFÜHLS
Menschen erwerben ihr Beziehungsverhalten vorwiegend durch Identifikation. Auf diesem Weg finden sie in einer prägbaren Frühzeit zu einem persönlichen Muster von Ängsten und Wünschen, die während der späteren Kindheit und im jungen Erwachsenenalter (der sogenannten Adoleszenz) noch einmal bearbeitet und zum Teil durch geistige Konstruktionen ergänzt werden, die sich mit dem Begriff des »Ideals« beschreiben lassen, den wir der antiken Philosophie (Platon) entnehmen. 17
In den meisten der bisher analysierten Partnerschaften mit einer heftigen Babykrise zeigt sich das oben schon erwähnte Bild der instabilen Kerne des Selbstgefühls, dessen Ursachen und Folgen jetzt genauer untersucht werden sollen.
Das klassische Modell der Psychoanalyse vom »Ödipuskomplex« ist insofern unvollständig, als es die familiendynamischen Bedingungen nicht untersucht, welche die Identifizierung des Sohns mit dem Vater, der Tochter mit der Mutter ermöglichen und auf dieses Weise helfen, die angespannte Situation dieser frühen Hochblüte menschlicher Leidenschaften zu bewältigen.
Narzissmusforschung und analytische Gruppendynamik ergänzen hier, dass die Familie im Sinn einer Primärgruppe die frühen Kerne des Selbst prägen und letztlich entscheidet, ob der Sohn den Vater genügend gut idealisieren und sich auf dieser Grundlage mit ihm identifizieren kann.
Wenn ein Mädchen die Mutter als grausam, kalt und feindselig
erlebt, den Vater aber als lebensfroh und warmherzig, wird es sich lieber mit dem idealisierten als mit dem entwerteten Elternteil identifizieren. Dadurch ist das Selbstgefühl später wenig belastbar. Es kann den Verlust von Stützen nicht verkraften, etwa durch die Einbuße einer gerne geleisteten Berufstätigkeit, durch den Verlust des gewohnten sozialen Feldes nach einem Umzug.
Die betreffende Frau wird nicht etwa als »männlich« auffallen, sondern eher als »hysterisch« bzw. (moderner) »narzisstisch gestört«. Sie ist besonders abhängig davon, als attraktive Frau anerkannt zu werden. Sie wirbt um erotische Aufmerksamkeit, fürchtet sich aber vor Bindungen, die Ängste vor einer Wiederholung der traumatischen Erfahrungen wecken. Sie erobert Männer und setzt sie dann unter Druck: Sie müssen ihr beweisen, dass sie als Männer ebenso perfekt sind, wie sie es als Frau sein möchte. Sie wird bewundert und begehrt, kann sich aber erotisch nicht fallen lassen.
In vielen Paaren schwindet die sexuelle Aktivität, sobald die Partner annehmen, es gäbe nichts mehr zu erobern. Paare berichten, wie die sexuelle Aktivität schlagartig nachließ, sobald sie in eine gemeinsame Wohnung zogen und ihre Liebesbeziehung die Charakteristik der Eroberung, des Abenteuers
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