Partnerschaft und Babykrise
auch die Liebeskrankheit beschrieben. Einmal wurde er zu einem jungen Mann geholt, der nicht mehr aß, sehr geschwächt und schon dem Tod nahe war. Der Arzt hatte den Verdacht, es handle sich um eine pathologische Verliebtheit, konnte ihn aber nicht erhärten, weil der Kranke nicht sprach. Deshalb ertastete Avicenna den Puls des Erkrankten und sagte ihm laut die Namen von Provinzen, Städten, Straßen und Menschen vor. Da er nun merkte, wie sich der Puls des Kranken beschleunigte, sobald er eine der jungen Frauen in der Umgebung des Mannes nannte, diagnostizierte er eine Liebeskrankheit. Avicenna riet den Eltern des Patienten, ihn mit diesem Mädchen zu verheiraten.
Diese nahmen den Rat an; der junge Mann genas.
Ähnliche Geschichten werden auch von anderen Ärzten, unter anderem einem Arzt am Hof der hellenistischen Königin Berenike erzählt, der alle Hofdamen am Bett des erkrankten Prinzen vorbeiziehen ließ, ebenfalls den Puls fühlte und so die Ursache herausfand.
Der Liebeskummer Erwachsener gleicht dem Leid verlassener Kinder. Vielleicht ist die Intensität des Bindungsempfindens im erotischen Akt nur ein Abglanz der intensiven Empfindungen, die den Säugling bewegen: dem panischen Schmerz, wenn die Mutter fehlt, dem Glücksgefühl, wenn sie stillt.
Selbstobjekte sind die Personen, welche das eigene Selbstgefühl festigen, indem sie Erwartungen genau erfüllen und dadurch die Symbiose sichern. Sie sich zu wünschen, ist für den Menschen normal. Während gesunde Personen die Versagung
solcher Nähewünsche mit Mühe verarbeiten können, bauen Traumatisierte Sicherungen ein. Sie inszenieren Leid, um die Qualen zu mildern, welche durch das Scheitern solcher Wünsche entstehen. Daher haben Ideale, die sich diesem Begehren entgegenstellen, auch eine so lange Tradition.
Wer keusch lebt und sich von dem Begehren nach Macht distanziert, schützt sich durch eine Disziplin der Vermeidung vor den Krankheiten der Liebe. Wer beschließt, jede Liebesbeziehung sogleich nach der Eroberung der Geliebten abzubrechen, erreicht das Gleiche. Don Juan und der Mönch sind einander näher, als sie glauben.
Die kindliche Depression als Modell der Liebeskrankheit
Die Ähnlichkeit zwischen den schweren Fällen der Liebeskrankheit und der anaklitischen Depression verlassener Kinder zeigt sich vor allem in der Sprachlosigkeit der Liebeskranken. Wenn wir nach biologischen Grundlagen der Mutterschaft suchen, finden wir keine isolierte, mit einem Kind allein gelassene Frau. Wir finden eine Gruppe in intensiver Kommunikation, Frauen und Männer, die sich fürsorglich um das Neugeborene organisieren und es begrüßen.
In Primitivkulturen wandern Säuglinge von Arm zu Arm. Eine Mutter hat nur in Notsituationen zu bewältigen, was heute vielfach »normal« ist: unter Einzelhaftbedingungen Tag und Nacht für ein Baby zuständig zu sein.
Heute ist das eigene Kind vielfach der erste Säugling, mit dem eine Frau zu tun hat. Das Schwinden der Großfamilie mag unser Sexualleben aus der drückenden Kontrolle einer erweiterten Verwandtschaft befreit haben. Aber es hat auch dazu geführt, dass die spielerischen Kontakte mit den Kindern anderer Frauen abgenommen haben und viel von einer selbstverständlichen Vertrautheit im Umgang mit Neuankömmlingen verschwand.
An ihre Stelle traten Experten, welche den Müttern beibringen, was sie tun und was sie lassen sollen. Solche Lösungen vernachlässigen freilich das meiste von dem, was wir über die Bedürfnisse von Säuglingen und Müttern wissen. Eine Mutter soll in der Lage sein, sich auf das und mit dem Kind zu freuen. Nur so kommt sie über die unweigerlichen Krisen und Mini-Katastrophen hinweg, die zu dem Prozess gehören, in dem ein auf die Welt der Jäger und Sammler vorbereitetes Geschöpf zum Kulturbürger wird.
Pflichtgefühl genügt nicht, um eine genügend gute Mutter zu machen; es erzeugt allenfalls eine perfektionistische Mutter, die sich selbst und ihre Kinder ein Leben lang mit Selbstvorwürfen traktiert.
Ein Kind, das von der Mutter nicht angenommen, sondern innerlich abgelehnt und aus Angst vor Strafe versorgt wird, hat unter primitiven Lebensumständen wenig Überlebenschancen. Es gibt entsprechende Beobachtungen von René A. Spitz aus einem Heim, das junge Mütter mit unerwünschten Schwangerschaften aufnahm, von denen manche
die Neugeborenen von Anfang an emotional zurückwiesen.
Diese Säuglinge verfielen nach einigen Wochen in einen Lähmungszustand, den Spitz die
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