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Pas de deux

Pas de deux

Titel: Pas de deux Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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ausgebrüteten Akte, die mich als Epileptiker mit manisch-suizidärer Tendenz auswies. Ich brauchte nichts mehr dazuzutun. Als Kriegerwitwe vergoß Elisabeth Benjamin ein paar Freudentränen, als sie erfuhr, daß ihr Sohn ausgemustert worden war, und ich akzeptierte zur Feier des Tages ein Tröpfchen Champagner und zwei, drei Plätzchen sowie die Glückwünsche eines jeden – Edith war an diesem gemütlichen Nachmittag nicht da.
    Seit ich auf der Welt war, hatte meine Mutter beteuert, daß ich niemals eine Uniform tragen würde, aber erst an diesem Tag war sie tatsächlich beruhigt. Ich auch. Zumal ich an keiner Schule eingeschrieben war und die vagen Zeugnisse, die Georges vorlegte, um meine Freistellung zu verlängern, jedesmal abgelehnt zu werden drohten. Ich nutzte also diesen schönen Tag und die euphorische Ruhe, die im Haus herrschte – wenn Edith nicht da war, erntete ich ausnahmslos ein Lächeln –, um meinen Koffer aufzuschnallen, da ich von nun an meine Rückkehr als endgültig und nach einer Woche der Genesung auch meine Ehre als ungefährdet betrachten konnte.
    Diese paar Tage gaben mir auch Zeit zum Nachdenken. Ich mußte mir unter anderem eingestehen, daß ich es nicht eilig hatte, das Haus zu verlassen. Das lief anders als bei anderen in meinem Alter oder Jüngeren sogar, die es, soviel ich sah und mitbekam, nicht erwarten konnten, von zu Hause abzuhauen, sofern es nicht schon geschehen war. Wenn sie zögerten, den Schritt zu vollziehen, hatten sie dennoch nichts anderes im Sinne, und wenn man sie so hörte, begann das Leben erst jenseits der elterlichen Türschwelle. Na gut, ich behauptete nicht das Gegenteil. Ich behauptete überhaupt nichts. Ich hatte einfach nur Mühe herauszufinden, was mich hinter diesen Mauern angeblich erstickte, was mich entfremdete, was mich kastrierte, was mir so zum Hals raushängen mußte.
    Am gleichen Abend noch, gegen elf Uhr, schlüpfte ich überdies in ein sauberes T-Shirt und eine Pyjamahose und schlich mich in Ramonas Zimmer, frisch rasiert und schnurrend wie ein Tiger. Ich erhielt nicht so ganz, was ich mir erhofft hatte, aber ich ging auch nicht ohne etwas. Erst sagte sie nein, sie könne nicht. Ich ließ mich verzweifelt quer über ihr Bett fallen. Sie küßte mich auf die Stirn, strich mir über die Haare, was nur Wasser auf meine Mühle war. Mit den Gedanken ganz woanders, erzählte ich dennoch, was es Neues gab, antwortete auf ihre Fragen und ließ sie meine linke Hand betatschen, die sie ein wenig als ihren kleinen Liebling ansah. Dann begann sie wieder mit ihrer alten Leier über unsere sexuellen Beziehungen, schärfte mir ein, die Stimme zu dämpfen, wenn ich mich gegen ihre Skrupel auflehnte, wenn ich ihr schwor, daß uns das ganz im Gegenteil nicht schlecht bekommen konnte, wie sie denn darauf käme?! Ihr zufolge würde ich das schon irgendwann einsehen. Aber bis dahin war ich der netteste Junge, den es auf der Welt gab, der so lange hatte schmachten müssen, der mit so bösen Gedanken wiederkam, den man aber einfach in die Arme schließen mußte. Sie lächelte und runzelte die Stirn, dann schob sie trotz allem ihre Hand in meine Hose, und ich verstand, entweder das oder gar nichts.
    Als ich in mein Zimmer zurückging, sog ich auf dem Flur tief die Luft ein. Nachts, wenn eine schwere und stumme Dunkelheit die Stockwerke erfüllte, entwickelte sich dort ein ganz besonderer Geruch, den ich seit meiner Kindheit genau wahrzunehmen wußte. Man konnte ihn spüren, hören, ja beinahe anfassen, wenn man die Augen zusammenkniff. Ich übte mich einen Moment darin. Alle schienen zu schlafen – außer Edith, die an diesem Tag nicht zu Hause übernachtete.
     
    Nachdenken. Ich nährte allerdings keinen wütenden Vulkan in meinem Kopf, sondern lediglich ein sanftes Sieden, das ständig meine Kopfhaut kitzelte und meine Aufmerksamkeit auf neue Aspekte lenkte, je nachdem, welche von den vieren ich beobachtete. Ich hatte nämlich eines Morgens eine Art Eingebung gehabt, als ich zusammen mit Alice frühstückte. Sie hatte den New Yorker in der Hand und erzählte mir, James Thurber sei gestorben, dessen Zeichnungen sie seit Jahren aufhebe und den sie auch für einen exzellenten Schriftsteller halte, aber ich hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Sie hatte sich gerade ein Stück Zucker genommen. Ich hatte ihr tausendmal bei diesem Ritual zugesehen, und das war eins der absurdesten Dinge, die ich kannte. Weil sie nämlich dieses Zuckerstück nie in ihren Tee oder Kaffee gab.

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