Pas de deux
Zeitungsausschnitte, Notizen stapelten, ein staubbedeckter Wust, den ich mit spitzen Fingern hochhob. Ich fragte mich, ob ich alles ungeordnet einpacken oder auf gut Glück sortieren sollte. Ich zögerte, inspizierte oberflächlich den Inhalt eines Ablagefachs, das ich aus dem Berg herausgezogen hatte, als ich an ihr Tagebuch geriet.
Ich erinnere mich ganz genau an ihre Worte: »Wer von euch seine Nase da reinsteckt, den schlag ich tot!« Wir waren ungefähr dreizehn oder vierzehn, und eine Woche zuvor hatten Oli und ich beschlossen, unsere Memoiren zu schreiben. Erst hatte sie sich über uns lustig gemacht, doch dann tauchte sie in unserem Zimmer auf und wedelte mit dem, was ich jetzt in der Hand hatte. Es sah nicht mehr taufrisch aus, der Leineneinband war schmutzig und vergilbt, der Rand abgenutzt und das Schloß verrostet, aber damals hatte es Oli und mir die Sprache verschlagen, so als säßen wir auf einem Fahrrad und sie überholte uns mit einem Moped. Wir lagen auf dem Teppich und blätterten in der letzten Nummer von Paris-Hollywood, und sie schaute von oben auf uns herab. Schließlich hatte sie uns erlaubt, uns das Ding ein wenig näher anzugucken. Natürlich war das kein Vergleich mit den simplen, stinknormalen Heften, die wir gekauft hatten. »Naja … Das ist was für Mädchen«, hatte ich ihr erklärt.
Ich schaute mir kurz das Schloß an. Es zu knacken, schien mir keine sehr gute Idee. Ich trug das Buch in mein Zimmer und ging wieder zurück, um meinen Umzug zu beenden.
Das ergab drei große Kartons. Ich schleppte sie vor die Haustür und stapelte sie dort aufeinander. Dann rief ich Lafitte an.
»Was zwischen euch vorgefallen ist, geht mich nichts an«, verkündete er mir.
»Da bin ich voll und ganz deiner Meinung, amigo …«
»Mir ist diese Situation peinlich, Henri-John. Aber Edith hat mich darum gebeten.«
»Es ist alles fertig«, unterbrach ich ihn. »Du kannst kommen, wann es dir beliebt, ihre Sachen stehen vor der Tür.«
»Aber …«
»Du wirst sehen, das ist ziemlich schwer. Tut mir leid, daß ich dir nicht helfen kann. Auf Wiedersehen, Robert.«
Georges brachte den ganzen Vormittag damit zu, im hinteren Teil des Busses die Sitze auszubauen, damit Madeleines Sarg hineinpaßte. Ich sah, wie er schwitzte, wie er sich mit den verrosteten Schrauben abrackerte, während ich zitterte und herumtänzelte. Ich hatte ihm eine Tasse heißen Tee gebracht, und ich wartete darauf, daß er sich entschloß, sie zu trinken, denn der Wirt des Hotels war schlecht gelaunt und hatte mir befohlen, sie auf der Stelle zurückzubringen. Und das hatte ich voll und ganz verstanden, denn dank Ramona radebrechte ich ein wenig Italienisch, vor allem jedoch, weil mich der Typ am Ohr gepackt und mir einen wilden Blick zugeworfen hatte: capisci … porca miseria!
Madeleines Tod – nicht nur, daß er jeden von uns erschütterte – brachte das wackelige Gebäude zum Einstürzen, das eine Tournee des Georges-Sinn-Fein-Balletts in puncto Finanzen darstellte. Noch am gleichen Abend sagte Georges sämtliche Aufführungen ab. Während der Nacht schlich er sich in unser Zimmer und weinte eine Zeitlang in den Armen meiner Mutter. Ich hörte sie von meinem Bett aus lange diskutieren und bekam mit, daß wir nicht genug Geld hatten, um die Hotelzimmer zu bezahlen. Das war sicher nicht der Grund seiner Bestürzung, aber plötzlich richtete er sich auf und knurrte: »Gott hat uns verlassen!« Meine Mutter beruhigte ihn. Den ganzen nächsten Tag hackten Georges und die anderen Männer für den Hotelbesitzer Holz. Die Frauen putzten sämtliche Zimmer, eins nach dem andern, wuschen und stopften in einer gräßlichen Waschküche Bettlaken – wir hörten sie durch die Kellerfenster zum Hof hin über einem Berg von Wäsche fluchen.
Aber das reichte wohl nicht, denn der Typ strich uns die Hälfte der Zimmer. Georges, Edith und Oli verbrachten die Nacht bei uns. Wir halbierten die Matratzen. Georges zog mit Ramona und Luiz, dem argentinischen Ballettmeister, los, um etwas zu essen aufzutreiben. Der Trick war, sich nicht erwischen zu lassen, wenn sie mit den Lebensmitteln zurückkamen.
Meine Mutter improvisierte uns auf dem nackten Boden ein Bett aus Decken. Danach zündete sie sich, sichtlich zufrieden, eine Zigarette an.
»Na, macht doch nicht so ’n Gesicht!« rief sie angesichts der Grimassen, die wir vor ihrem Arrangement schnitten.
Tatsächlich waren wir solche Unannehmlichkeiten nicht gewohnt. Nicht daß wir sonst in
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