Passwort in dein Leben
auf dem »Haus Sonnenblume« steht. Es zeigt auf einen Feldweg voller grober Steine. Irgendwo bellt ein Hund. Ich laufe den Weg entlang, sehe ein großes, altes Bauernhaus nahe am Waldrand. Davor grasen Esel und Schafe. Ein paar Hühner picken Würmer. Tibetische Gebetsfahnen schmücken den alten Gartenzaun, in dem die letzten Reste eines Bauerngartens am Blühen sind.
Ich schlucke, weiß nicht, ob ich einfach so hier auftauchen kann. Ich dachte eigentlich, meine Tante wäre in einer Psychiatrie oder so. Das hier sieht eher aus wie eine Esolandkommune aus der Jugend meiner Eltern. Da erst bemerke ich die Frau. Sie steht gebückt im Bauerngarten.
Jetzt sieht sie mich an, mustert mich. Ihre Augen sind durchdringend und irgendwie wässrig zugleich.
Sie nickt.
»Hallo«, sage ich, »ich suche eine Marion. Sie soll hier wohnen?«
Ihre Augen ziehen sich ein kleines bisschen zusammen.
Ich versuche zu lächeln.
»Hmhm«, macht sie. »Ich glaube, die ist heute in der Werkstatt.«
Ohne ein weiteres Wort kommt sie aus dem Bauerngarten. Eine Gruppe Hühner flattert gackernd aus dem Weg. In Gummistiefeln, die ihr anscheinend zu groß sind, schlurft die Frau vor mir her auf eine Seitentür des Hauses zu. Ich weiß nicht, ob das bedeutet, dass ich ihr folgen soll. Ich nehme es einfach mal an.
Mir kommt es vor, als wären meine Beine aus Pudding.
Ich blinzle. Es riecht seltsam, nach einer Mischung von altem Haus und etwas anderem. Erst als sich meine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt haben und ich die Lavendelbündel erkennen kann, die auf dem Tisch liegen, weiß ich, woher der Geruch kommt. Um den Tisch herum sitzen fünf Menschen, Erwachsene. Eine Frau mit blauer Schürze steht an einer großen Wanne.
»Katja?«, fragt sie und meint offensichtlich die Frau, die mich hierhergebracht hat.
Katja tritt ein Stück zur Seite.
Und alle sehen mich direkt an.
Anscheinend ist eine der Frauen am Tisch Marion. Ich könnte nicht sagen, welche.
»Also«, ich schlucke. »Ich heiße Sofie und ich suche Marion. Meine Tante.« Innerlich schüttle ich den Kopf über mich, weil ich so doof klinge.
»Sofie?«, fragt eine mir unbekannte Stimme. »Dieters Tochter?«
Ich nicke.
»Eigentlich«, meint die in der Schürze, »sollen Besuche vorher angemeldet werden. Sie können grundsätzlich nur stattfinden, wenn sie für die Bewohnerin gut sind.«
Ich senke den Kopf. »Tut mir leid.«
Komischerweise füllen sich meine Augen mit Tränen. Ich drehe mich ohne ein weiteres Wort um.
»Moment«, ruft die Schürzenfrau. »Marion, möchtest du mit Sofie reden? Du kannst einen Augenblick Pause machen …«
Etwas rumpelt.
Ich drehe mich vorsichtig wieder um, blinzle die Tränen weg.
Eine Frau, die sogar noch dünner ist als Annabelle, kommt auf mich zu. Sie steckt in viel zu weiten Kleidern. Sogar die Turnschuhe an ihren Füßen sehen aus, als würden sie jeden Moment abfallen. Ihr blondes Haar hat weiße Strähnen.
Sie fasst mich leicht an der Schulter und wir gehen zur Tür hinaus in die Sonne. Ich habe das Gefühl, dass ihre Hand kalt und knochig ist, meine das sogar durch meinen Pulli hindurch spüren zu können.
»Eine Bank in der Sonne«, sagt sie mit einer Stimme, die keine Höhen und Tiefen zu kennen scheint.
Ich gehe neben ihr her um das Haus herum zu einer grün gestrichenen Bank. Von dort aus kann man in das Tal hinuntersehen. Sie wischt mit der Hand über die Bank und setzt sich dann. Erst jetzt traue ich mich, sie genauer anzuschauen. Und erkenne die Ähnlichkeit. Die Lachfältchen um ihre Augen sind genauso wie bei meinem Vater. Etwas Vertrautheit kommt zurück. Aber ich weiß nicht, ob ich mich erinnere oder mir das nur wünsche.
»So eine Überraschung«, sagt sie wieder. Aber völlig ohne Betonung. »Ich hätte dich nicht mehr erkannt. Du bist gar kein Kind mehr.«
»Nein«, sage ich. Schließlich sind seitdem fast acht Jahre vergangen.
Unter der Bank liegen lauter kleine braune Würmchen. Sieht aus wie Hühnerkacke.
»Geht's dir gut hier?«, frage ich.
Sie nickt. »Ja. Hier ist alles ruhig.«
Zu ruhig, denke ich.
»Und ich habe Gott gefunden.«
»Gott?«
»Ja. Wenn die Geister wiederkommen, bete ich zu ihm, und dann ist alles gut. Er beschützt mich, ist immer für mich da. Gott liebt uns alle.« Sie klingt wie der Pastor im Kindergottesdienst und überhaupt nicht wie die Tante, an die ich mich erinnere.
»Als ich hierherkam, habe ich Gott erfahren«, macht sie weiter.
Ich nicke. »Und davor?«, frage
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