Passwort in dein Leben
sind zu langsam. Es muss komisch aussehen, wie ich dahinhaste. Regen läuft über mein Gesicht. Einmal habe ich überlegt, dass wir vielleicht gar nicht wirklich existieren und nur Figuren in einer Geschichte sind, die sich jemand ausdenkt. Als ich Clara davon erzählt habe, hat sie gelacht und gesagt: »Dann hat derjenige aber enorme Probleme mit dem Spannungsbogen.«
Ich muss ihr recht geben. Die Heldin in meinem Drama müsste längst gerettet werden oder sich selbst retten. Aber vielleicht bin ich auch nur eine Nebenfigur. Vielleicht ist es eine dieser Geschichten, in denen der Bösewicht der Held ist und am Ende triumphiert. Meine Figur würde sich dann vielleicht umbringen, in den See stürzen oder so. Ich schaue hinunter in die trübe Brühe, die nach totem Fisch stinkt, und es schüttelt mich. Das kannst du vergessen, sage ich zum Autor, ich will weiterleben. Irgendwann kommt die Zeit, wo mich jemand zur Heldin macht. Ich schüttle diese Gedanken weg. Einfachweil sie sich ziemlich verrückt anhören und ich das natürlich nicht wirklich glaube. Ich bin schließlich nicht verrückt.
Ich versuche, an etwas Positives zu denken. An Apfelkuchen. Und an Marco. Ich gehe durch die Straße, in der ich ihn das erste Mal gesehen habe, in der Nacht, in der alles anfing. Komischer Zufall.
Aber Marion hat damals erzählt, dass ihr ausgerechnet in einer so riesigen Stadt wie Berlin einer ihrer Exfreunde über den Weg gelaufen ist. Einer von denen, die man nie mehr treffen will, weil er ein zu großer Freak war. Dieser Ex von ihr hat damals, als sie mit ihm zusammen war, schon Körperteile in Gips gegossen. Er hatte mehrere Abdrücke von seinem Penis und wollte auch einen von ihren Brüsten machen. Als sie ihn dann nach zehn Jahren wiedergetroffen hat, hat er ihr stolz erklärt, dass er das immer noch macht, dass er Körperteile abbildet und die dann bemalt. Diese werden in Schaufenstern in Berlins Hip-Stadtteilen ausgestellt. Meistens Bäuche und Brüste von schwangeren Frauen. Dann hat er sie angeblich so angegrinst und von oben bis unten gemustert. Meine Mutter hat sich total aufgeregt, dass Marion mir so was erzählt. Ich war schließlich erst acht. Damals fand ich das nur seltsam. Heute verstehe ich noch eher, was das Gruselige daran ist. Komisch, was mir alles wieder einfällt, wo ich doch jahrelang nicht an Marion gedacht habe.
Keine Ahnung, was passiert, wenn sie mich wiedersieht. Ob sie mich erkennt? Ob sie mich überhaupt sehen will?
Ich weiß nicht, wie alles gekommen wäre, wenn sie nicht nach Thailand gefahren und verrückt geworden wäre. Vielleicht wäre sie dann jetzt die Freundin, die mir glauben würde, die mir helfen würde. Mit der Zunge lecke ich Regen von meiner feuchten Lippe. Wahrscheinlich ist meine Mutter schon wieder vom Einkaufen zurück. Sie wird ausflippen, wenn sie merkt, dass ich weg bin.
Die Gitterbrücke über die Bahngleise ist rutschig vom Regen. Ich sehe Züge unten stehen. Ein Pfeifen, Türenschlagen, der Schweizer Zug fährt ab. Vielleicht hätte ich den nehmen sollen, einfach abhauen …
Wind zerrt an meinen Haaren, reißt mir die Kapuze vom Kopf. Ich halte sie mit einer Hand fest. Hoffentlich ist meine Tasche wirklich regendicht.
Durchgefroren stehe ich an der Bushaltestelle. Es dauert knappe zwanzig Minuten. Ich gehe in die Bahnhofshalle und kaufe mir einen Tee. Der ist billiger als Kaffee. Dann verdrücke ich mich in die Bahnhofsbuchhandlung, schaue mich ständig um. Hoffentlich kommt niemand vorbei, der mich kennt. Die Verkäuferin sieht missbilligend auf meinen Tee. Oder die Tropfspur, die meine nasse Jacke auf den Boden malt.
Im Bus laufen die Fenster an, obwohl außer mir nur eine alte Dame einsteigt und eine, die ausländisch aussieht. Der Scheibenwischer quietscht. Ich bin froh, als wir Lindau hinter uns lassen.
Je höher wir ins Allgäu hinaufkommen, desto leichter wird der Regen. Das Quietschen hört auf. Die Sonne spitzelt sogar ein wenig durch die Wolken. Der Busfahrer fummelt am Radio herum, stellt Bayern 3 ein. Irgendein schnulziger Popsong. Ein paar Kühe glotzen uns von einer Weide aus an. Wir kommen auf die Serpentinenstraße. Langsam tuckert der Bus voran. Hinter uns hat sich bestimmt eine Autoschlange gebildet. Ich merke, dass ich mich in jeder Kurve an den Sitz klammere. Mir wird schlecht. Die Straße ist voller nasser Blätter, hoffentlich rutscht der Bus nicht aus und wir landen alle im Straßengraben.
Der nächste Ort heißt Scheidegg und ist ein
Weitere Kostenlose Bücher