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Pastworld

Pastworld

Titel: Pastworld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Beck
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eines Jugendlichen handelte: ein Paar lange, dürre Beine in schäbigen Hosen und ein Paar abgetragene Stiefel; die typischen Beine eines Gassenbengels, eines Spitzbuben oder eines Taschendiebs. Die Hautfarbe des Jungen erschien in der frühen Morgendämmerung so grau wie die Steine ringsum und seine Gesichtszüge wirkten ebenso scharf gemeißelt. Es handelte sich um einen einfachen, fröhlich dreinschauenden Straßenbengel, etwa siebzehn Jahre alt. Auf dem Kopf trug er eine eng anliegende Metzgerburschenmütze, deren abgegriffener, zerfetzter Schirm einen schwarzen Schatten auf sein Gesicht warf.
    »Habt Ihr ’n bisschen Kleingeld für mich, Mister …«, sagte der Junge vergnügt und beiläufig, aber dann brach er mitten im Satz ab, als er sah, wer da vor ihm stand.
    »Hab nichts bei mir, tut mir leid«, erwiderte der Mann im Umhang ebenso zögernd wie mechanisch. Irgendetwas hatte der Bursche an sich, das ihm bekannt vorkam. Er durchforschte sein Gedächtnis und eine ganze Reihe ähnlicher Jungen erschien vor seinem inneren Auge, aber dieser hier war keiner davon, vor seinem inneren Auge sah er nur das unerklärliche Bild eines alten schwarzen Buches. Er schob es beiseite, schüttelte den Kopf und ging rasch weiter.
    Der junge Mann stand stocksteif da, wie angewurzelt. Einen Augenblick später atmete er plötzlich tief und erleichtert aus und sah dem Mann im Umhang nach, wie er im Nebel verschwand. Dann schüttelte er sich und lachte kurz auf. Er muss es vergessen haben, dachte er, er hat mich ganz aus der Nähe gesehen und mich nicht erkannt.
    Ein Passagierluftschiff der Buckland Corp. – das Erste an diesem Morgen – flog über seinen Kopf hinweg. Für einen Moment fiel das Licht aus der Gondel auf die Straße. Der Junge beobachtete, wie das Luftschiff direkt über ihm auf das Ankunftsdock zuflog. Dann machte er sich auf den Weg. Seine Stiefel klapperten auf dem Kopfsteinpflaster. Die Eisenplättchen unter seinen Absätzen kratzten und klackerten, während er so schnell lief, wie er nur konnte.
    Während er rannte, hob sich der Nebel und wirbelte um ihn herum. Für Japhet McCreddie, den jeder nur »BibleMac« nannte, war der Nebel wie ein Lebewesen.
    Er war ein Freund, er betrachtete ihn sozusagen als »Familienmitglied«, als eine Art treue wilde Bestie, die ihn den ganzen Tag lang begleitete, ihm auf seinen zahlreichen Gängen durch die Stadt folgte und ihn schützte, ihn und all die anderen Diebe (und schlimmeres Gesindel), die in den Schatten von Pastworld zu Hause waren. Der Nebel schwebte über dem gesamten Stadtzentrum und verschluckte einfach alles, ließ Geheimnisse entstehen und fortbestehen und verdeckte die Wahrheit.
    Keine dreißig Meter vor ihm begann der dichtere Nebel, der, ohne dass er hätte sagen können, wo er genau herkam, von einem System aus Rohren und Kanälen unter dem Bürgersteig durch die Lüftungsgitter nach oben gepumpt wurde. Direkt hinter der Brücke stieg er in einer einzigen, absolut senkrechten Linie in die Höhe. Wie der Rücken einer Bestie stieß er gegen Geländer und eiserne Laternenpfosten. In diesem Nebel schien es weder Vor noch Zurück zu geben, keinen Ausgangspunkt, von dem BibleMac gekommen, noch ein Ziel, zu dem er unterwegs war, und das war ihm gerade recht. Einen Augenblick lang waren Zeit und Ort aufgehoben, er war einfach nur ein vom Glück begünstigter Junge, der vom Nebel verschluckt wurde.
    Der Mann im Umhang eilte weiter. Die Straßen wurden breiter und die Gaslaternen mit ihren hellen Lichtkreisen häufiger. Seinen Bewegungen nach zu urteilen und den plötzlichen Haken, die er schlug, schien er jung und energisch zu sein. Der sperrige Gegenstand, den er über der Schulter trug, behinderte sein rasches Fortkommen in keiner Weise. Sein Weg führte ihn über eine steil ansteigende Straße auf einige Reklametafeln zu, die vorübergehend um ein hoch aufragendes Gebäude aufgestellt worden waren.
    Soeben hatte er im Stadtteil Shoreditch einen niedergemetzelten Kadaver zurückgelassen, der mit abgetrennten Armen und Beinen und ohne Kopf für alle gut sichtbar dalag. Die verschiedenen Körperteile waren in Form der berühmten Zeichnung des vitruvianischen Menschen von Leonardo da Vinci angeordnet. Für seine Verfolger und alle anderen stellte die Leiche ein warnendes Zeichen seiner rücksichtslosen Brutalität im Umgang mit versuchtem Verrat dar. Außerdem diente sie als Botschaft, als ausgeklügeltes Signal seiner Rückkehr aus der Dunkelheit und der Wildnis,

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