Pastworld
früh allein aus dem Haus gegangen und als er zurückkam, zitterte er und war ganz verstört und beunruhigt. Er sagte mir, ich solle mich hinsetzen, und blinzelte mich an, so gut er es durch seine dicken Brillengläser konnte.
»Ich muss dir etwas sagen, Eve«, sagte er mit unsicherer Stimme. »Du hast dich sicher oft gefragt, warum ich so sorgsam auf dich aufpasse. Die Wahrheit ist, dass jemand hinter uns her ist. Schon seit langer Zeit. Ich habe dir das absichtlich verheimlicht, Eve, zu deinem eigenen Schutz. Ich habe dich immer so gut beschützt, wie ich konnte, und trotzdem ist dir dieser böse, böse Mensch auf die Spur gekommen. Wir werden so schnell wie möglich umziehen müssen. Irgendwohin, weit weg.«
In aufsteigender Panik lief er auf und ab, blieb stehen und lief dann wieder auf und ab. Ich verstand kein Wort. Jacks Bericht war überaus geheimnisvoll.
»Woher weiß denn so ein gefährlicher Mensch überhaupt etwas über uns?«, fragte ich.
»Er weiß es einfach«, sagte Jack und nickte. »Wie gesagt, er ist dir auf die Spur gekommen.«
Etwas an diesem wiederholten »auf die Spur gekommen« warnte mich. Das konnte ja nur bedeuten, dass es nicht um uns ging, sondern einzig und allein um mich – irgendjemand war ausdrücklich hinter mir her. Plötzlich ging mir ein Licht auf.
Ich bin ein Geheimnis.
Ich bin jemand, der versteckt werden muss.
Ich muss für immer verborgen bleiben. Ich war eine Prinzessin aus dem Märchen, wie Rapunzel, die in ihrem hohen Turm vor der Welt versteckt gehalten wurde.
Aber als ich mein Spiegelbild in der Glasscheibe der Kaminabdeckung erblickte, wurde mir natürlich klar, dass ich keineswegs eine Märchenprinzessin war. Ich habe keine Fülle goldener Haare, die ich aus unserem Fenster bis hinunter auf die kalte Straße fallen lassen könnte. Nein, ich bin einfach nur ich selbst. Ich sah nur mein eigenes Spiegelbild. Mich selbst, in meinem schlichten, langweiligen zimtfarbenen Tageskleid, wie ich mitten in unserem schäbigen Dachzimmer stand, mit dem armen, halb blinden Jack als Beschützer.
»Wieso«, fragte ich, »weiß denn überhaupt jemand etwas über mich und will mir außerdem Unheil zufügen?«
Jack schüttelte den Kopf. »Es gibt ein paar Dinge, die du jetzt noch nicht wissen musst.«
Ein paar Tage sind vergangen und Jacks geheimnisvoller Freund, der vornehme Gast, war wieder zu Besuch gekommen. Dieses Mal saßen sie tief ins Gespräch versunken zusammen, während ich mich ganz still verhielt und auf Jacks Bitte hin eine Kanne Assamtee zubereitete. Ich behielt sie im Blick, sagte aber nichts. Sie sprachen leise und eindringlich miteinander und der vornehme Gast war offensichtlich ebenso beunruhigt wie Jack. In dem Moment entdeckte ich etwas ebenso Seltsames wie Neues über mich selbst. Wenn ich ihnen während des Sprechens genau auf die Münder sah, konnte ich ihnen die Worte von den Lippen ablesen. Ich las und verstand die Worte, als würden sie sich in meinem Kopf auf einer gedruckten Seite entrollen.
JACK: »Ich hänge jetzt so sehr an ihr, dass ich nicht mehr zurückkann, das verstehst du doch sicher? Du hast ja selbst ein Kind.«
DER VORNEHME GAST: »Natürlich verstehe ich das, aber du kannst das nicht miteinander vergleichen. Entweder so oder er wird sie eines Tages holen kommen, dann bist du ihm im Weg und das wird dein Ende sein.«
Nach einer unbehaglichen Teepause, in der unser Gast mich nur kopfschüttelnd anstarrte, verabschiedete er sich. Er zwängte sich in seinen Mantel und dann sprachen er und Jack in der engen Diele, die ins Treppenhaus führte, noch einmal in aller Eile miteinander. Aber jetzt hatten sie mir den Rücken zugewandt, sodass ich nicht mehr mitbekam, was sie sagten.
Jack gegenüber erwähnte ich meine neu erworbene Fähigkeit, von den Lippen zu lesen, nicht.
Als der Besuch weg war, Jack sich umdrehte und mich ansah, machte er den Eindruck, von den Neuigkeiten des vornehmen Gastes niedergeschlagen, besiegt und voller Gram zu sein.
Ich ging ans Fenster und schaute auf die belebte Straße hinunter. Ich beobachtete, wie die Leute eilig hin und her hasteten. Als ich mich schließlich wieder umdrehte und Jack ansah, saß er mit dem Rücken zu mir, zusammengesackt und verängstigt, in unserem armseligen Zimmer. Er drehte sich schwerfällig in seinem Sessel um und blinzelte mich im hellen Gegenlicht des Fensters an.
»Es tut mir leid, Eve«, sagte er.
»Was tut dir leid?«, fragte ich.
»Ich kann’s nicht erklären«, erwiderte
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