Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
ohnmächtigen Zeit seit Carmens Verschwinden hätte sie das nie für möglich gehalten.
Inmaculada erhob sich und überquerte die Avenida Juan Carlos in Richtung Altstadt. Sie musste in die Kirche, musste allein sein mit ihren Gedanken und ihrem Schicksal, es war zum Verzweifeln – sie konnte sich Joana nicht offenbaren. Aber auch Joana hat ein Anrecht auf die Wahrheit, sagte sie sich, während Passanten sie im Vorbeigehen grüßten, ohne dass sie davon Notiz nahm. Die Trauer würde bei Joana schneller verblassen als vergebliche Hoffnung. Allein schon deswegen musste sie es ihr sagen.
Der junge Deutsche kam ihr in den Sinn. Sie erinnerte sich, dass sie die Beherrschung verloren hatte. Wieder einmal. Etwas war aus ihr herausgebrochen. Die falschen Worte? Hatte sie etwa ihm, dem Fremden, etwas anvertraut, über das sie bis jetzt mit noch niemandem gesprochen hatte, nicht einmal mit dem Pfarrer?
Sie konnte sich einfach nicht mehr daran erinnern. Die vielen Medikamente bewirkten immer öfter Erinnerungslücken.
Oben an der Ecke der Plaza del Ayuntamiento, dem Rathausplatz mitten in der Altstadt, betrat sie eine Apotheke und kaufte die verschriebene Medizin. Danach ging sie zur Kirche hinauf.
Sie setzte sich auf eine Bank rechts in der fünften Reihe, dorthin, wo sie immer saß. Außer ihr waren nur eine andere Witwe und ein junges Urlauberpaar in der Kirche, das nach einem Foto des Bauwerks wieder auf den Vorplatz hinausging. Inmaculada faltete die Hände und sprach das Vaterunser. Danach betete sie für ihren verstorbenen Mann und für ihre Töchter Carmen und Joana. Schließlich beendete sie ihre Andacht und ließ ihren Gedanken freien Lauf.
Eines führte zum anderen und ihr vor Kurzem gefasster Entschluss war nur die logische Konsequenz der veränderten Umstände der letzten Tage und Wochen. Erst die Beschwerden, dann die Untersuchung: die Gewebeproben, das klärende Gespräch mit dem Arzt und endlich die Gewissheit. Und ein paar Tage später – wie aus heiterem Himmel – der Anruf, auf den sie die letzten beiden Jahre vergeblich gewartet hatte! Wieder Gewissheit – oder die Erlösung aus der Ungewissheit, dachte sie. Aber nur für sie selbst. Niemand sonst wusste davon, auch nicht die beiden Polizisten, mit denen sie eben noch gesprochen hatte. Joana aber würde davon erfahren müssen. Jedoch erst danach … nachdem es vorbei war. Das war sie ihrer Tochter schuldig. Auch sie sollte den Seelenfrieden bekommen, der sich jetzt, langsam wie die Morgendämmerung nach einer langen Nacht, in ihr ausbreitete.
Inmaculada erhob sich, bekreuzigte sich und zündete an einem seitlich stehenden Altar eine Kerze an. Den Schlitz für den Euro ignorierte sie. Sie war zwar sehr gläubig, konnte aber die Verbindung zwischen Gott und Geschäft nicht leiden. Sie trat hinaus auf den Vorplatz. Wieder durchzuckten sie Schmerzen. Sie hielt sich den Bauch und krümmte sich über einer Balustrade. Eigentlich sollte sie im Krankenhaus liegen, das hatte sie Joana versprochen. Doch sie durfte noch nicht ruhen.
Noch nicht .
Als Paco die Hotelhalle betrat, stieg der junge Deutsche, den er vorhin bei Inmaculada angetroffen hatte, gerade in den Aufzug. Paco wandte sich zum Empfang und nahm die Mütze ab. Sein Kollege tat es ihm nach einer kleinen Verzögerung gleich.
»Joana … der Hinweis von Mari Lucia …« Paco biss sich auf die Lippen. Er hasste es, schlechte Nachrichten zu überbringen, aber seit Carmens Verschwinden war er der Ansprechpartner der Familie. Joanas Vater war ein guter Freund von ihm gewesen, bevor ihn dieser verdammte Schlaganfall erwischt hatte.
»Die Untersuchung hat leider nichts gebracht«, fuhr er fort. »Die Kollegen in Madrid haben die Aktion vorerst eingestellt.«
Maite trat zu Joana, nahm sie in den Arm und flüsterte ihr tröstende Worte ins Ohr. Joana erwiderte nichts. Sie schluckte mehrmals. Paco sah betreten zu Boden, besser er ging, hier gab es nichts mehr für ihn zu tun. Er verabschiedete sich, wandte sich aber wieder um. »Ach, was ich noch vergessen habe – deine Mutter weiß Bescheid, wir haben sie gerade unten beim Krankenhaus getroffen.«
Joana kam hinter der Theke hervor.
»Dann hast du sie also auch gesehen«, stellte sie nüchtern fest, »ein Gast hat mir eben davon erzählt. Ich konnte das erst nicht glauben, ich dachte, sie liegt im Krankenhaus in Motril.«
Paco überlegte und zog an seinem Schnauzbart. »Ja, sie hat mit diesem blonden Deutschen gesprochen.« Er deutete in Richtung
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