Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
der Fahrstühle. »Deine Mutter schien ziemlich aufgewühlt.«
Joana runzelte die Stirn. »Weil du ihr die Nachricht mit Carmen überbracht hast?«
»Nein, schon vorher. Und was Mari Lucias vermeintliche ›Entdeckung‹ anbelangt – deine Mutter schien ohnehin mit nichts anderem gerechnet zu haben. Sei unbesorgt, Joana, sie nahm es sehr gelassen auf.«
Joana nickte. Paco schwieg betroffen, bewunderte aber die Tapferkeit der jungen Frau. Andererseits – vielleicht ging es ihr ähnlich wie ihrer Mutter. Sie waren beide dabei, die Hoffnung aufzugeben.
Maite sah den zwei Beamten nach, die die Lobby verließen, während Joana an den Tresen zurückkehrte. Sie kannte Joana gut genug, um zu wissen, dass sie jetzt nicht über »die Sache« sprechen wollte. Nicht einmal mit ihr, ihrer besten Freundin. Deswegen verwunderte es sie umso mehr, als Joana ihr Schweigen brach. Zum ersten Mal seit dem Tag, an dem Carmen verschwunden war.
»Weißt du Maite, ich glaube, ich werde meine kleine Schwester nie mehr wiedersehen. Ich denke, sie ist tot. Aber ich … ich …«
Rasch wandte sie sich ab und eilte in das kleine Büro hinter der Rezeption. Maite wollte ihr folgen, zögerte aber, als sich Carlos, der Hoteldirektor, näherte. Carlos legte seine fleischigen Hände auf die Theke und deutete mit dem Kinn in Richtung Büro, aus dem leises Schluchzen drang.
»Der Hinweis mit dem Mädchen in Madrid«, erklärte Maite ihrem Chef die Situation. »Du weißt schon, das Mädchen, das Carmen angeblich so ähnlich sah – wieder nur falscher Alarm.«
»Tut mir leid«, erwiderte Carlos lapidar und wandte sich den Aufzügen zu. »Ach, sag Joana das, hörst du?«
Sag es ihr doch selbst, dachte Maite und streckte hinter seinem Rücken die Zunge raus. Sergio, der gerade die Zeitschriften am Kiosk sortierte, grinste Maite an – wie die meisten der Angestellten hier konnte auch er den Chef nicht leiden.
Maite setzte sich, nahm ihre Nagelfeile zur Hand und dachte darüber nach, wie viel Zeit seit dieser Tragödie bereits verstrichen war: knapp zwei Jahre, seit sie selbst als offiziell letzte bekannte Person Carmen gesehen hatte:
Die ganze Sache geschah an einem Samstag, Anfang April. Carmen verließ die Hochzeit ihrer Cousine um Mitternacht. Maite erinnerte sich noch genau: Sie stand mit Carmen draußen vor dem hell beleuchteten Eingangsportal des »Palace« und versuchte, sie dazu zu überreden, doch ein Taxi zu nehmen. Aber Carmen wollte lieber zu Fuß gehen. Maite hatte sich deswegen später schwere Vorwürfe gemacht und sich wiederholt die Frage gestellt, ob sie nicht auf dem Taxi hätte bestehen sollen. Aber andererseits, wenn sie nüchtern zurückblickte, dass geschehen würde, was geschehen war – das hatte sie damals nun wirklich nicht ahnen können.
Für Carmen waren es knapp anderthalb Kilometer nach Hause gewesen. Maite ging die Strecke, die sie gut kannte, in Gedanken noch einmal durch:
Die Hoteleinfahrt hinunter, danach musste Carmen der Straße dreihundert Meter bis zu einer Abzweigung gefolgt sein, wo man rechter Hand in die gehobene Wohnsiedlung von Los Pinos oder linker Hand nach Almuñécar abzweigen konnte. Carmen hätte die linke Abzweigung nehmen müssen und wäre am Ende einer steilen und kurvigen Straße hinter dem Wohnblock von Las Gondolas wieder herausgekommen. Danach hätte sie rechter Hand das Ärztezentrum von Almuñécar passieren müssen und dann die Schule, die sie damals besuchte. Zweihundert Meter weiter wäre sie an der Kreuzung beim Edificio El Mayoral angelangt, wo sie nach rechts in ihre Wohnstraße, der Calle Juan Carlos I., hätte abbiegen müssen.
Diese Straße war eine der Hauptverkehrsstraßen von Almuñécar. Carmen musste beim »Mama Matiu«, einer gut besuchten Kneipe, und dem Hotel »Bahia de Almuñécar« vorbeigekommen sein, aber niemand konnte sich später daran erinnern, sie gesehen zu haben. Nach dem Hotel beschrieb die Straße eine Kurve und führte zum Busbahnhof; gegenüber lag das Edificio Huerta del Barco, ein Gebäude, in dem Carmen mit ihrer Mutter damals wohnte und in dem sie nach der Hochzeitsfeier nie angekommen war.
Die Guardia Civil hatte damals diese Strecke als Carmens Heimweg rekonstruiert. Jede andere Route hätte für Joanas Schwester einen Umweg bedeutet. Doch fand sich weder eine Spur, noch hatte jemand in dieser Nacht irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt. Allerdings gab es in den Wochen und Monaten danach einige vage Hinweise von Leuten, die glaubten, das Mädchen
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