Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
gesehen zu haben, oder die falsche Rückschlüsse aus den Tuscheleien des Ortes zogen. Aber jene Hinweise dienten leider nur dazu, die Hoffnung der Familie nicht frühzeitig versiegen zu lassen. Die Guardia Civil wusste gar nichts, das hatte sie ja gerade eben wieder bewiesen. Nur Paco meldete sich hin und wieder bei Joana und ihrer Mutter, aber auch das wohl nur aus Pflichtgefühl und Verbundenheit mit der Familie.
Joana kam aus dem Büro und wirkte etwas gefasster.
»Carlos meint, es tue ihm sehr leid …«, und mit triefender Ironie fügte sie hinzu: »… soll ich dir ausrichten.«
»Danke«, erwiderte Joana, ohne auf die Anspielung einzugehen.
»Geht’s wieder?«
Joana nickte und zog einen Spiegel aus der Tasche. Maite musterte sie. Da Joana sich selten schminkte, war ihr Gesicht wenigstens nicht verschmiert.
»Ich weiß nicht, Maite. Mir fehlt langsam die Kraft für Hoffnung. Ich mag einfach nicht mehr daran denken, was in dieser Nacht alles passiert sein könnte …«
Maite schwieg. Das Thema war nicht neu. Spekulationen und Tratsch über Carmens Verschwinden gab es unter dem Personal genug, aber jetzt, wo Joana es selbst ansprach, fühlte sie sich ein wenig unbehaglich. Unschlüssig starrte sie in ihre leere Kaffeetasse.
Ein paar Neuankömmlinge wandten sich an Joana. Maite ergriff die Gelegenheit, um in der Cafeteria Nachschub zu besorgen. Unterwegs dachte sie über alles nach. Carmen hatte keinen richtig festen Freund gehabt, mit dem sie hätte ausreißen können. Da war nur ihr Amigo Rafael, der schüchterne Junge aus ihrer Klasse, aber der war nicht verschwunden und konnte demnach mit ihrem Verschwinden auch nichts zu tun haben.
Mit der Schule, dem Elternhaus oder Sonstigem gab es – wie allgemein bekannt war – auch keine Probleme. Und jeder, der Carmen kannte, bezweifelte, dass das Mädchen einfach nur aus einer Laune heraus hatte ausbrechen wollen. Fälle wie diese gab es zwar (das hatten sie von den Polizisten erfahren), aber die Jugendlichen kamen laut Statistik meist innerhalb einer Woche heulend wieder bei ihren Eltern angekrochen. Außerdem hatte Carmen damals weder Geld noch einen Ausweis bei sich getragen, das wusste Maite sicher. Nein, etwas anderes war geschehen. Jemand musste ihr in dieser Nacht aufgelauert haben …
Das restliche Hotelpersonal dachte genauso: ein Sexualdelikt, Vergewaltigung oder Schlimmeres. So was sah man schließlich wöchentlich im Fernsehen und es gab alle möglichen – und unmöglichen – Theorien, die auf dieser Annahme basierten. Dergleichen ließ sich in einem Ort wie Almuñécar auch nicht verhindern. Wo sonst nichts passierte, musste eben getratscht werden. Diejenigen, die nicht daran glaubten, dass Carmen einfach weggelaufen war – und das waren außer ihrer Mutter und Schwester die meisten Dorfbewohner –, spekulierten darüber, wer der Mörder gewesen sein könnte. Jemand aus Almuñécar? Ein Hotelgast? Oder, und darüber wollte Maite lieber nicht allzu intensiv nachdenken, als sie bei Antonio, mit dem sie bereits im Bett gewesen war, zwei Kaffee bestellte: Er könnte natürlich auch hier im Hotel arbeiten …
Jedenfalls musste man damit rechnen, dass der Täter bekannt war und immer noch frei in der Gegend herumlief.
Diese Vorstellung beschäftigte Maite so sehr, dass sie seitdem die Strecke vom Hotel ins Dorf hinunter nicht mehr zu Fuß ging – was sie früher oft getan hatte, um sich fit zu halten. Und es bedeutete für sie leider auch, dass sie nicht mehr so ungeniert mit jedem ins Bett steigen konnte, der ihr gefiel. Man konnte ja nie wissen …
Die Guardia Civil hatte in den Wochen nach dem Zwischenfall viele Leute überprüft, aber herausgekommen war dabei nichts.
Es wird wohl nie aufgeklärt werden, dachte Maite, als sie wieder hinter die Theke trat. Joana bediente gerade ein skandinavisches Ehepaar und lächelte den Gästen zu, als ob nichts geschehen wäre.
Dazu muss man erst einmal die Kraft haben, dachte Maite anerkennend. Hätte sie selbst die letzten zwei Jahre immer wieder zwischen Hoffnung und Ernüchterung schwanken müssen, sie würde diesen Nordeuropäern nicht so freundlich zulächeln können – auch wenn dies ihr Job und vor allem ihr Chef Carlos vorschrieben.
Joana reichte den Kunden das Anmeldeformular und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Maite war froh, dass sich Joana neuerdings wieder mehr um ihr Aussehen kümmerte, gerade letzte Woche war sie beim Friseur gewesen und ihre widerspenstigen Naturlocken
Weitere Kostenlose Bücher