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Patentöchter

Patentöchter

Titel: Patentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Albrecht & Corinna Ponto
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man die Tatsache, dass wir so ahnungsloswaren, was S. betraf, auch so erklären: Die Familienfreundschaft beruhte ja vor allem auf der engen Jugendbindung der Väter. Doch man hatte sich aus den Augen verloren – die Berufsjahre absorbierten die Väter. Und: Es war damals absolut unvorstellbar, so betrogen zu werden. Vergleichbares war noch nie geschehen.
    1977 besuchte uns Deine Schwester drei Mal. Was kann ich dir von den beiden Besuchen im Mai und Juni 1977 erzählen, die ich miterlebt habe? Von den wenigen auffälligen Momenten, an die ich mich erinnere? Im Nachhinein weiß ich, dass es sie gab. Und über die Jahre gewannen diese Situationen an Tiefenschärfe und Deutlichkeit.
    Wo soll ich anfangen? Bei dem Licht, das spät nachts noch in ihrem Gästezimmer brannte, als S. bei uns übernachtete? Bei ihrem geradezu attackenartigen, kraftvollen Stürmen zur S-Bahn? Bei diesem einen Augen-Blick, Augen-Aufriss beim Frühstück? Schaue ich auf diese Tage zurück, sehe ich nur kurze Sequenzen, Blitzlicht-Momente, in denen vielleicht schon damals zu ahnen war, was passieren würde.
    Ich versuche es ausführlicher. Ich habe noch einen ganz intensiven Eindruck von ihrer Persönlichkeit. Sie hatte ein Lächeln, ein hier und da fast leicht schnaubendes Lachen, das einherging mit einer tatsächlichen und vielleicht auch bewusst gepflegten Scheu. Es war beinahe ein Kokettieren mit Zurückhaltung, und dennoch wirkte sie sehr stark und gefestigt auf mich. Entschlossenheit und Zurückhaltung bewegten sich pendelnd in einer Balance. Habt ihr Euch zu Hause je lautstark gestritten? Ich erinnere mich, sie sprach leise, aber schnell, huschte oder stolperte manchmal durch die Sätze.
    Wie kann ich beginnen? Ich muss ein Stück zurückgehen für den bewussten Augen-Blick.
    Im Frühjahr 1975 lernte ich bei einer Abendeinladung von Prinzessin Margaret von Hessen ihren engen Freund, den Violoncello-Virtuosen Mstislaw Rostropowitsch, kennen. Er überredete mich beharrlich, ihm vier Wochen später, wenn er wieder nach Frankfurt käme, dieses und jenes Stück auf dem Cello vorzuspielen. Nachdem ich dieses Vorspiel anscheinend einigermaßen bewältigt hatte, bot er mir an, gratis Privatstunden bei ihm zu nehmen. Diese herausfordernde Violoncello-Phase ging dann über zwei Jahre. In Berlin, Frankfurt, Rotterdam, Baden-Baden, wo immer er gerade konzertierte, fand er vor seinen Auftritten Zeit für eine Unterrichtsstunde.
    Am 30. Mai 1977 abends – Deine Schwester hatte sich wohl gleichzeitig zum Übernachten in Oberursel angesagt – sollte ich zur lecture vor einer Abendeinladung in die schwedische Botschaft in Bonn kommen. Ich war sozusagen zufällig gleichzeitig mit meinen Eltern dort eingeladen. Nach der Musikstunde in einem der oberen, mit schwerer Wandbespannung ausgestatteten Räume der Botschaft ging es die Treppe hinunter in das Getümmel des Empfangs. Slawa Rostropowitsch versank mit guten Getränken versorgt und in ein gestenreiches Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter Valentin Falin vertieft für den Rest des Abends in einem Sofa. Ich suchte meinen Weg durch die große Gästeschar. Mein Vater, der gerade Herbert Wehner begrüßen wollte, hielt mich auf, damit auch ich dem damaligen SPD – Fraktionsvorsitzenden die Hand gab. Aus einer trotzköpfigen Laune heraus, die aber meiner intuitiven Haltung diesem Politiker gegenüber entsprach, grüßte ich sehr unlustig, verweigerte den Handschlag und zog mit einer schnellen Drehung auf dem Fuß weiter.
    Gegen Mitternacht fuhren wir heim nach Oberursel. Bei unserer Ankunft um circa zwei Uhr dreißig brannte das Licht im Gästezimmer noch. »Wer ist denn zu Besuch?«, fragte ich. »Susanne Albrecht.« Ich wunderte mich, dass sie uns nicht noch begrüßte, wenn sie doch so lange wach war. Es sah doch so aus, als wartete sie auf uns.

    Am nächsten Morgen am Frühstückstisch erzählte mein Vater amüsiert und immer noch leicht verwundert von der missglückten Begrüßung Wehners am Abend zuvor. Deine Schwester hatte gerade den Blick auf ihren Teller gesenkt. Bei der Erwähnung der schwedischen Botschaft schnellte ihr Kopf ruckartig hoch. Ich weiß noch, wie erstaunt ich über diese Heftigkeit war. Sie riss ihre Augen weit auf und musterte mich mit schnell forschendem Blick, als könne ich irgendetwas durchschauen. Dieser Panikblick war für mich im Nachhinein so ein Sekundenschlüssel für ein Verstellungsspiel, für etwas Verborgenes. Ein Schatten war plötzlich über dem Tisch, der

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