Patentöchter
aber genauso schnell in den munteren Gesprächslinien wieder verflog. Später konnte ich mir S.’ starke Reaktion damit erklären, dass sie wohl assoziativ an den RAF – Anschlag auf die Stockholmer Botschaft der Bundesrepublik im April 1975 gedacht haben musste.
Nach dem Frühstück brachte ich S. noch zu ihrem Auto. Es war voller Sand und mit übereinandergestapelten Gepäckstücken, Zeitungen und Reisekartons beladen. »Ich komme gerade aus den Ferien von der französischen Küste.« Das sah man ihr an. Sie war kräftig braun gebrannt.
Bei ihrem zweiten Besuch kam S. überraschend, an einem Nachmittag im Juni 1977. Sie suche gerade eine Wohnung in Frankfurt und wolle nur mal so vorbeischauen. Meine Mutter konnte sich gar nicht um sie kümmern, da befreundete Musiker aus Freiburg für eine Konzertprobe gekommen waren. Während des Musizierens fiel meiner Mutter auf, wie regungslos S. der dreistündigen Probe zuhörte. Sie saß dabei, ohne sich zu rühren oder zu bewegen. Dabei muss endlos viel Bewegung in ihren Gedanken gewesen sein.
Als ich später dazukam, gingen wir beide in den Garten, setzten uns auf eine Bank und unterhielten uns. Da ich in den Prozessen später immer wieder nach Auffälligkeiten in diesem Gespräch gefragt worden bin, erinnere ich michauch nur noch an diese. Sie fragte mit besorgtem Unterton und gleichzeitig beiläufig nach unseren »Sicherheitsvorkehrungen«, nach den Hunden, nach Alarmanlagen. Da gab es wenig zu berichten: Es gab keine Alarmanlage, die Hunde waren verspielte Begrüßer jedes neuen Besuchers, und S. konnte für sich nur feststellen: Hier ist wahrlich keine Festung zu überwinden.
S. blieb bis zum Abendessen. Es gab Forellen. Eine Portion zu wenig, da der Besuch unangekündigt war. Meine Mutter teilte ihren Fisch mit ihr. Ein starkes Bild.
Mitten im fröhlichen, munteren Gespräch am Tisch, in dem sie zwischendurch auch mitlachte, sprang S. ohne Vorankündigung plötzlich auf und wollte dringend zum Bahnhof. Ich fuhr sie zur S-Bahn. Noch während meiner Schrittfahrt vor der kleinen Bahnstation riss sie die Autotür heftig auf, sprang heraus und raste mit einer überraschenden Kraft in Richtung der Gleise. Ich blieb verwundert mit offen gelassener Beifahrertür im Auto zurück. Auch dies so ein Schlüsselbild. Für mich stand im Nachhinein hinter der impulsiven Kraft, die dort urgewaltig ausbrach, ein hochtrainierter Körper. Vorbereitet wohl für einen Angriff, habe ich diesen Körper rasend flüchten sehen. Flucht als vorweggenommene Attacke. Ein Gegenmoment zu der über viele Stunden als ruhig, ausgeglichen und zurückhaltend erlebten Erscheinung der Person.
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Das »Verzweiflungsspiel«
Julia Albrecht
Was war geschehen, bevor Susanne in den Untergrund ging und die Türöffnerin bei Pontos gab? Wer hatte Schuld? Im Gespräch mit Anne Siemens hattest Du gesagt, dass meine Eltern Susannes Biografie kannten und dass Deine Familie von diesem Wissen »unverzeihlich viel später« erfuhr.
Hätten unsere Eltern Deine Eltern warnen müssen? Hätten sie Auskunft geben müssen über ihre politische Entwicklung, anstatt das – eigentlich – Selbstverständliche anzunehmen, dass die Tochter bei den Freunden auf der Durchreise tatsächlich nur übernachten wollte? Hätte meine Mutter in Erwägung ziehen müssen, dass ihre Tochter sie benutzte, um einen Kontakt herzustellen für ein Verbrechen an der befreundeten Familie? Wie muss man gemacht sein, um der aktiven Verstellung des Kindes nicht auf den Leim zu gehen?
In dem Prozess 1991 hat meine Schwester daran festgehalten, dass sie diese Bitte einer Kontaktaufnahme zu Pontos noch nicht vor dem Hintergrund des Entführungsplans ausgesprochen habe. Ich habe das nicht geglaubt. Es ergab in vielerlei Hinsicht keinen Sinn. Und ich habe es als Schutzbehauptung gewertet, um den Vorwurf des Verrates nicht nur an Pontos, sondern auch an meinen Eltern abzuschwächen. In den Monaten vor dem Anruf bei Euch hatten meine Eltern das Gefühl gewonnen, dass sich meine Schwester derFamilie wieder angenähert habe. Sie hatte wieder Interesse an unserer Familie gezeigt und meine Mutter sogar auf eine Konfirmation begleitet. Sie hatte ihr Äußeres verändert, war – in den Augen meiner Eltern – wieder »ordentlich« gekleidet, hatte sich die Haare geschnitten. Vor diesem Hintergrund haben meine Eltern auch Susannes Bitte verstanden, bei Euch übernachten zu wollen, als Wiederannäherung an die eigenen Werte, das eigene Leben. Nicht
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