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Patentöchter

Patentöchter

Titel: Patentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Albrecht & Corinna Ponto
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glücklichen Wiederzusammenkommens. Sondern die Tränen der vollkommenen Orientierungslosigkeit.
    Wir nahmen uns nicht in die Arme, das sah der Raum, das Besuchsszenario nicht vor. Hinter Susanne saßen zwei Bewacherinnen. Sie selbst sah vollkommen erschöpft aus, verweint, mit strähnigen Haaren. Sie sagte mit ihrer sanften,vorsichtigen Stimme: »Hallo, Julia.« Sie sagte, dass sie mich ganz vergessen habe. Dass es ihr Mühe mache, sich daran zu erinnern, dass es mich gab. Dass ich ja so klein gewesen sei.
    Ich sagte, dass ich immerhin 13 Jahre alt gewesen sei, als sie verschwand.
    Diese verdammte 13. Susanne war genau 13 Jahre älter als ich. Ich war 13, als sie 1977 bei der Ermordung Jürgen Pontos dabei war. Da war sie zweimal 13 Jahre alt. 13 Jahre später wurde sie festgenommen, da war ich zweimal 13 und sie dreimal 13 Jahre alt. Wie gut, dass ich nicht abergläubisch war.
    Susanne sprach sächsisch. Original sächsisch. Da war nichts Hamburgisches in ihrer Stimme. Die durch die Kehle gezogenen Worte klangen ganz anders als meine – und schafften eine künstliche und gleichzeitig passende Distanz. Sie erzählte, dass ihre Legende in der DDR nur eine Schwester vorgesehen habe. Ich verstand, dass ich dabei irgendwie durch den Rost gefallen war. Und dass das Gedächtnis ihr dementsprechend einen Streich gespielt und sie mich gleich ganz und gar gestrichen hatte.
    Ich blieb nicht besonders lange. Es entspann sich kein wirkliches Gespräch. Wie auch. Sie war wie von einem anderen Stern. Es war für mich wie ein Tritt in den Magen, dass sie mich vergessen hatte. Es schien mir so ungerecht; als hätte sie ihren Teil eines geheimen Deals nicht eingehalten, wonach wir einander Treue geschworen hatten. Es verwirrte mich, dass ich all die Jahre so inniglich an sie gedacht, dass ich mich gesorgt und geplagt – und sie mich einfach vergessen hatte.
    Dabei hatte es natürlich einen Sinn. Wer für sich eine neue Biografie erfindet, muss darin auch leben. Nur so kann man als die, die man nun sein will, auch anderen gegenüber glaubwürdig sein. Es ist wahrscheinlich gar nicht verwunderlich, dass man dann die andere, die eigentliche Biografie – solange sie nicht gebraucht wird und einen sogar verraten könnte – tatsächlich wegdrängt. Das konnte ich mir aber damals noch nicht klarmachen.
    Ich ging wieder nach draußen, die Sonne schien, meine Mutter wartete auf mich. Ich sagte zu ihr: »Die ist verrückt«, woraufhin wir so lachen mussten, wie wir in unserem Leben noch nicht gemeinsam gelacht hatten. So als sei eine ungeheure Spannung von uns abgefallen.
    Es war ein bisschen wie in dem Märchen vom Froschkönig, als die eisernen Bande, die sich der treue Heinrich aus Trauer um seinen in einen Frosch verwandelten Herrn um sein Herz hatte legen lassen, »damit es ihm nicht vor Weh und Traurigkeit zerspränge«, nach der Wiederkehr seines Herrn laut krachend wegbrachen.
    Meine Mutter juchzte: »Wirklich, meinst du das ernst?«
    Und ich sagte: »Ja, ich denke, sie ist verrückt.«
    Sie war natürlich nicht verrückt. Die Situation war verrückt. Ossi trifft Wessi. Täterin trifft wieder auf Familie. Aus der Verlorengeglaubten wird die Wiedergefundene. Vielleicht stand sie unter Schock. Vielleicht standen wir unter Schock. Natürlich war die Situation vollkommen verwirrend, nicht nur für sie. Sie wusste in der ersten Zeit nach ihrer Festnahme sicher nicht, wer sie nun eigentlich war. Zumindest stellte ich mir das so vor. In den Vernehmungen, die sie zu der gleichen Zeit hatte, rang sie um Klarheit. Sie versuchte aufzuklären und sich zu erklären. Sie war, das drang sofort nach draußen, in einem Maße kooperativ, als hätte sie all die Jahre nur darauf gewartet, endlich reinen Tisch machen zu können.
    Während meine Mutter und ich zu fassen versuchten, was wir gerade im Gefängnis erlebt hatten, trat eine Frau aus dem Gefängnistor, die mir irgendwie bekannt vorkam. Ich glaube, wir hatten damals sowieso das Gefühl, als drehe sich alles nur um RAF und Susanne. Es war C., die ebenfalls als RAF -»Aussteiger« in der DDR gelebt hatte. Sie hatte ihren Mann besucht, der auch in Untersuchungshaft saß. Gegen sie lag kein Haftbefehl vor. Ihr wurde keine konkrete Tat vorgeworfen, nur die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, doch das war bereits verjährt.
    Aufgedreht wie wir waren, kamen meine Mutter und ich sofort mit ihr ins Gespräch. C. wirkte gelassen, obwohl die Festnahme ihres Mannes ebenfalls nur wenige

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