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Patentöchter

Patentöchter

Titel: Patentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Albrecht & Corinna Ponto
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hatte in der Rosenbecker Str. 3 gewohnt. Die Vorstellung, die ich all die Jahre gehabt hatte, dass wir uns hätten begegnen können, war gar nicht so weit hergeholt. Ich war regelmäßig mit Freunden in Ostberlin gewesen. Wir hatten in der Markthalle am Alex und in dem Buchladen in der Oranienburger Straße eingekauft. Wir waren im grauen Prenzlauer Berg herumgelaufen, hatten die Sophien-, Marien- und Zionskirche bestaunt und waren fassungslos über das verwaiste Unter den Linden. Hier hatte Susanne gelebt, und ich hätte sie finden können.
    Susanne war im Gefängnis, ganz in der Nähe, und ich wollte sie besuchen. Mein Vater kümmerte sich um die Besuchserlaubnis für uns. Und ich erhielt selbst jede Menge Besuch. Das Schweigen der Kindheitsjahre war aufgehoben. Keiner meiner Freunde und Freundinnen fand es schwierig, mit mir zu sprechen, zu fragen, wie es mir ging, die Aufregung dieser Tage mit mir zu teilen. Aus den Zeitungen wussten wir, wo sie im Gefängnis saß, wo sie gewohnt und unter welchem Namen sie gelebt hatte. Lindy, Johannes, Martin und ich fuhren nach Ahrensfelde und schauten erstaunt die endlosen Fassaden der Plattenbauten entlang. Wir hielten vor ihrem Haus in der Rosenbecker Straße und schauten zu ihrer Wohnung empor. Trister konnte aus unserer Sicht eine Wohnsituation nicht sein.
    Meine Schwester war also ein Ossi. Das war kurios für uns. Ich hatte sie vielleicht in libanesischen oder palästinensischen Lagern vermutet. Ich hatte mir ihr Leben unnachvollziehbar fremd vorgestellt – versteckt und verkleidet, Arabisch sprechend vielleicht. Dass sie nebenan gelebt hatte, ein deutschsprachiges Leben geführt hatte, das war irgendwie zum Lachen. Mit einem Freund zusammen hatte ich einmal – zwar nicht wirklich ernsthaft, aber in der Fantasie doch voll durchgespielt – eine Reise in den Nahen Osten geplant. Wir hatten uns vorgestellt, dass wir eine reale Chance haben könnten, meine Schwester in einem der Ausbildungscamps, wo wir nach einer europäischen Frau fragen würden, wiederzufinden.
    Dass sie untergekommen war in der anderen Hälfte Deutschlands, der realsozialistischen, ergab irgendwie Sinn, nur wären wir nie darauf gekommen. Anders als die der Familie Ponto hatten unsere Finger nie in diese Richtung gezeigt, hatte unsere Intuition da nichts hervorgebracht.
    Wir fuhren zurück nach Berlin-Mitte und zum Polizeipräsidium in der Keibelstraße, wo sie inhaftiert war, und versuchten uns vorzustellen, wie es da drinnen aussah. Ganz in der Nähe, auf der Karl-Liebknecht-Straße, entdeckten wir ein riesiges Graffito mit der Aufschrift »Freiheit für Susanne«. Ich amüsierte mich und fotografierte. Ich erinnere mich, dass wir in meiner karg eingerichteten Wohnung viel an einem winzigen hochbeinigen Holztischchen saßen und über Susanne und über das sprachen, was bisher geschehen war.
    Das Glück dieser Tage ist für Außenstehende bestimmtschwer nachzuvollziehen. Ich wusste nicht, was sie neben der Beteiligung an dem Attentat an Jürgen Ponto eventuell noch getan hatte, welche Geschichte sie uns erzählen würde, wie sie gelebt hatte und was auf mich – möglicherweise auch an herben Enttäuschungen – zukommen würde. Ich war nur euphorisiert davon, dass die Verschwundene wieder da war.
    Mein Vater besuchte sie wenige Tage nach ihrer Festnahme. Bald erhielten auch meine Mutter und ich eine Besuchserlaubnis, nicht für Susanne Albrecht, sondern für Ingrid B. An der gewaltigen Tür des Untersuchungsgefängnisses in der Keibelstraße wurden wir von einer dicken Frau mit einem riesigen Schlüsselbund empfangen. Wie das Innere eines riesigen Ozeandampfers wirkte der dahinterliegende Raum auf mich. Groß, metallen, düster. Treppen führten irgendwohin. Man sah – oder ahnte man es nur – Zellentür an Zellentür. Zunächst ging es eine eiserne Treppe hinauf, Schlüsselklappern, Eisentür auf, wir hindurch, Eisentür zu. Danach ging es nur noch hinab in dunkle Tiefen des riesigen Baus. Irgendwann waren wir dort, wo wir hinwollten, man hieß mich in einem kargen, fensterlosen Raum warten, während meine Mutter endlich ihre Tochter wieder in die Arme schloss.
    Ich wartete, gar nicht so lange. Meine Mutter kam zurück, und ich ging hinein. Da saß Susanne alleine hinter einem Rahmen, einer Art Durchreiche, an einem Tisch. Es war grauenhaft. Ein Gemisch widerlicher Emotionen hing im Raum, Tränen flossen, man konnte sich nicht normal verhalten. Es waren nicht die fröhlichen Tränen eines

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