Patentöchter
Tage zurücklag. Wir gingen gemeinsam in eine Kneipe an der Ecke Potsdamer Straße und Landwehrkanal und lachten viel über die völlig verkehrten Welten. Sie erzählte uns von den Jahren in der DDR . Von dem Versuch, in eine Welt einzutauchen, die – sprachlich und räumlich – der eigenen Heimat so nah, ideologisch, politisch und vom Lebensstil her aber unterschiedlicher nicht hätte sein können. Sie erzählte von der Vorstellung, in das bessere Deutschland gekommen zu sein, und der Ernüchterung, die sich bald eingestellt habe. Von den zahllosen Fettnäpfchen, in die man trat, wenn man die internen Regeln nicht kannte. Sie erzählte von dem Verbot der Stasi, mit den anderen Untergetauchten Kontakt zu halten. Dieser Nachmittag mit der Fremden brachte uns auch meine Schwester irgendwie näher.
Bald traf ich zum ersten Mal Susannes Mann, der Kontakt zu uns aufgenommen hatte. Er hatte Susanne – für ihn Ingrid – im Gefängnis besucht. Bei der Festnahme sei er dabei gewesen, und bis unmittelbar vor der Festnahme habe er, wie er erzählte, von ihrer wahren Geschichte nichts gewusst. Er sprach davon, dass seine Frau keiner Fliege etwas zuleide tun könne. Es war deutlich, dass er sie liebte und achtete. Ihr gemeinsames Kind war bei den Großeltern, hatte noch nichts mitbekommen von dem Grauen, das sein Leben umstürzen würde.
Meine Eltern setzten Himmel und Hölle in Bewegung, um Susanne zu helfen. Der beste Anwalt. Alles für die Tochtertun. Für das verlorene Kind. Das hatte meine Mutter immer vor Augen gehabt: das verlorene Kind, das endlich heimkehren und um Vergebung bitten sollte.
Sie hatte die Geschichte vom Verlorenen Sohn mit sich herumgetragen. In dem biblischen Gleichnis kehrt der Sohn wieder heim, nachdem er das Erbe seines Vaters durchgebracht hat. Er fällt vor seinem Vater auf die Knie und sagt: Mein Vater, ich habe gesündigt, ich bin es nicht wert, dein Sohn zu sein. Nimm mich als einen deiner niedrigsten Knechte an. Und der Vater heißt den Sohn aufzustehen, sagt seinen Knechten, sie mögen ein Kalb schlachten und ihn festlich einkleiden. Er freut sich, weil sein Kind wieder da ist: »Er war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergekommen.«
Ich glaube, meine Mutter verband mit dieser Geschichte nicht nur die Hoffnung, dass meine Schwester überhaupt wieder heimkommen würde, sondern auch, dass dem demütigen Kind gegenüber ein Verzeihen möglich sein könnte.
Es hat sich herausgestellt, dass diese Hoffnung trog. Wir hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Susanne war wieder da, aber sie hatte ihre eigene Agenda.
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»Endlich allein
mit meinem Schmerz«
Corinna Ponto
Von der Festnahme erfuhr ich durchs Autoradio.
Ich stand unter großer Anspannung – es war der Tag der Hauptprobe vor meinem Operndebüt in Smetanas »Die verkaufte Braut« am Landestheater in Dessau. Ich sang Marie, die Hauptrolle. Wenig Proben, ein schweres Stück. Mit der Arie »Endlich allein mit meinem Schmerz« aus dem dritten Akt musste ich immer ringen, so lyrisch, so elegisch – ich liebte die Ensembles, sie befreiten mich immer –, das hohe C im Schlussakkord ein leichter Federstreich.
Nach der Probe schaltete ich auf dem Heimweg zu dem Gastzimmer des Theaters das Autoradio ein. Es war die erste Nachricht: Ehemalige, lang gesuchte RAF – Terroristin Susanne Albrecht in Berlin-Marzahn gefasst.
Ich hatte Angst – schlichte, direkte Angst. Der Name, die Geschichte waren aus einem anderen Leben – das Leben lag weit hinter mir. Wie konnte die Geschichte wieder so nah, so extrem nah herankommen? In doppeltem Sinne. Berlin-Marzahn, das waren etwa hundert Kilometer von Dessau.
Der mir nur allzu bekannte lähmende Schockzustand war augenblicklich wieder da. Ich musste kotzen. Das ging nicht – ich musste doch singen. Verdrängen, zerknüllen und rausschmeißen aus dem Fenster. So klopfte der Gedanke in meinem Kopf – schmeiß es raus –, ich öffnete das Autofenster. Von draußen strömte die schwermetallhaltige Dessauer Luft in den Wagen.
Wir hatten S. im Nahen Osten, in Südamerika, in Norddeutschland vermutet – oder gar, dass sie tot war. Zumindest waren der Name und die Geschichte in einer zugeschnürten Kiste verpackt. Die sich jetzt wieder öffnete; ein traurig-miefiger Geruch trat hervor. Wieder wurde einem die Kraft geraubt, der eigene Weg verstellt. Mord ist immer auch Raubmord: Ein Teil deiner eigenen Geschichte und deiner Kraft wird dir gestohlen.
In ein
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