Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
jenem Raum und sei sprachlos über ihre Verachtung. »Es war furchtbar.«
»Wie reagierte er?«
»Er grinste.«
»Grinste?«
»Ja, und Elizabeth sagte: ›Wenn ich mir mit allem Respekt die Bemerkung erlauben dürfte: Sie begreifen offenbar den Ernst der Lage nicht, in der Sie sich befinden.‹ Das Grinsen war aus Rileys Miene verschwunden, aber er kochte innerlich und sagte: ›Da irren Sie sich. Ich kenne meine Lage sehr genau.‹ Wenn Elizabeth gedacht hatte, er würde klein beigeben und sich schuldig bekennen, hatte sie sich geirrt. Es sollte zum Prozess kommen.«
Roddy klopfte seine Pfeife im Aschenbecher aus. »Er hört sich an wie einige der Herren, die zu vertreten ich die Ehre hatte.« Er schaute auf die Uhr. »Dabei müssen wir es belassen. Ich muss mir ein paar Worte einfallen lassen, um eine offene Schießerei wegzuerklären. Erzählen Sie mir den Rest morgen.«
3
»DER PROZESS FING gut an, lief dann aber schlecht, obwohl es den Anschein hatte, als gehörte diese Wendung zum Schlechteren zur Verteidigungsstrategie – denn Ihre Mutter war dafür verantwortlich.« Mr. Wyecliffe saß in einem Pub in der Nähe von St. Paul’s am Tisch. Sein kleiner Kopf versank in seinem Mantelkragen. Nick lehnte sich zurück, um Abstand zu seiner aufdringlichen Vertraulichkeit zu schaffen. »Die erste Zeugin war die jüngste, ein Mädchen unter sechzehn. Ich sah sie mal auf dem Gang, Tattoos über beiden Ohren. Aber sie lief weg.«
»Wohin?«
»Keine Ahnung. Aber das hieß, dass der erste Anklagepunkt im Eimer war: eine Minderjährige zum Gewerbe zu ermuntern, wenn ich so sagen darf.« Er nippte an seinem Bier.
»Das war schlecht für die Anklage und gut für uns.«
»Da kann ich nicht folgen.«
»Diese Anschuldigung war am einfachsten zu erfinden, weil sie weder Zuhälterei noch Nötigung beweisen mussten. Ermunterung reichte. Jetzt war die Anklage sozusagen im Hintertreffen, und genau da schien – ich betone: ›schien‹ – Ihre Mutter der Gegenseite zu helfen. Die betreffende Zeugin hatte, sagen wir. eine schwierige Vergangenheit: eine, die nicht unbedingt Vertrauen in ihre Aussage einflößte. Aber wenn ich nicht mit juristischen Methoden vertraut wäre, hätte ich gedacht, dass Ihre Mutter sie ausbreitete, um Mitleid zu erregen. Schauen Sie selbst. Das sind meine Notizen von ihrem Kreuzverhör.«
Er öffnete sein Notizbuch und reichte es hinüber. Nick las die überraschend saubere Mitschrift und hatte fast die Stimme seiner Mutter im Ohr, ihr Zögern und ihr Verständnis.
»Anji, Sie sind siebzehn?«
»Ja.«
»Sie waren sehr tapfer heute Morgen, als Sie dem Gericht erzählt haben, wie Sie dazu kamen, auf der Straße zu arbeiten – ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich diesen Ausdruck benutze …«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen.«
»Danke. Ich möchte Sie nach etwas fragen, was geschah, bevor Sie nach London kamen.«
»He?«
»Über Leeds.«
»Meinetwegen.«
»Sie sind weggelaufen?«
»Na und?«
»Sie sind aus dem Lambert House weggelaufen, einem Heim?«
»Einem Gefängnis.«
»Anji, ich möchte nicht wieder aufrühren, was damals geschah. Das Gericht versteht, dass die Häuser, die Kinder schützen sollen, manchmal versagen. Euer Ehren, lassen Sie mich deutlich sagen, dass …«
Mr. Wyecliffe hüstelte. »Sehen Sie die Stelle über Lambert House?«
»Ja.«
»Also, das Haus wurde wegen moralischer Verfehlungen geschlossen. Die Anklage hätte sich diese Information über die Zeugin bis nach dem Kreuzverhör der Verteidigung aufgehoben. So wäre den Geschworenen als Letztes von dem Mädchen Mitleid in Erinnerung geblieben – weil es einen Vorwand für das Weglaufen, Lügen und Stehlen bot, das nachher kam. Aber Ihre Mutter nahm dem die Spitze, indem sie es zuerst zur Sprache brachte. Es zeigte, dass sie fair war, auch wenn sie damit der Anklage die einzige Trumpfkarte aus der Hand nahm. Verstehen Sie?«
Nick rückte seinen Stuhl vom Tisch ab und las weiter.
»Danach sind Sie aus dem Amberley House weggelaufen?«
»Ja?«
»Und dann aus der Einrichtung Alstham?«
»Na und?«
»Anji, Sie sind aus neun weiteren Einrichtungen weggelaufen, nicht wahr?«
»Ich hab nie gezählt.«
Nick ließ das Notizbuch fallen. Mr. Wyecliffe musterte sein Bierglas. »Schmeckt mild, das Zeug, hat aber ein spezifisches Gewicht von 5,6. Seien Sie vorsichtig.«
»Warum sollte meine Mutter … den Anschein erweckt haben wollen, Mitleid zu erregen?«
»Weil sie die Geschworenen nicht gegen sich
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