Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
davon.«
Wenn Anselm nach London kam, wohnte er normalerweise bei den Augustinern in Hoxton. Gelegentlich, wie dieses Mal, buchte er allerdings ein Gästezimmer im Gray’s Inn, seiner ehemaligen anwaltlichen Heimat. So frischte er seine Verbindungen zu den Juristen auf und fand Gelegenheit, seinen ehemaligen Vorgesetzten Roddy zu treffen. Nachdem Anselm im Zug die Riley-Akten gelesen hatte, ging er die schmale Holztreppe zu seinem früheren Arbeitsplatz hinauf. Es war Abend.
Roddy hatte sich gerade einen langen blauen Hausmantel gekauft, wie er es nannte. Er saß mit ausgestreckten Beinen da und sah aus wie ein Wasserbett im Sari. Nachdem sie eine Weile über Hypnose als Mittel gegen Sucht geplaudert hatten, sagte Anselm: »Erinnern Sie sich an den Riley-Prozess?«
»Das war der einzige Fall, den Sie je zusammen mit Elizabeth bearbeitet haben.«
»Ja, woher wissen Sie das?«
»Sie hat es kürzlich erwähnt.« Er nahm eine große geschnitzte Pfeife. »Österreichisch«, erklärte er stolz. »Aus Knochen.«
Anselm zögerte und ließ es ratternd in seinem Kopf arbeiten. Am Ende wurde ihm klar, dass Roddy schon über den Prozess und seine Bedeutung für Elizabeth Bescheid wusste. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf erzählte Anselm von dem Schlüssel, dem roten Koffer und dem Brief, den er nach seinem Besuch bei Mrs. Bradshaw lesen sollte. Währenddessen stopfte Roddy seine Pfeife und drückte den Tabak gelegentlich mit dem Daumen oder einem Messer fest. Die zunehmenden Falten auf seiner Stirn zeugten von Erregung und Verwunderung, als sei ihm etwas entgangen, was er hätte voraussehen müssen. In Anselms Kopf klickte es: Elizabeth hatte Roddy nicht über den Prozess hinaus ins Vertrauen gezogen. Es war verblüffend – für Anselm ebenso wie für Roddy: Sie hatte dem Mann, der ihre Karriere gefördert hatte wie ein Vater, etwas vorenthalten.
»Es ist schon sehr lange her, Anselm, ich habe vergessen, was damals passiert ist.« Roddy zündete ein Streichholz an, als sei es die Einleitung zu einem Zeremoniell. »Erzählen Sie mir von Riley … diesem verdorbenen Werkzeug.«
»Frank Wyecliffe schickte die Akten herüber und bat um ein Gespräch«, erzählte Anselm. »Drei Teenager behaupteten, sie hätten Riley am Bahnhof Liverpool Street getroffen. Er habe ihnen eine kostenlose Bleibe angeboten. Er erzählte ihnen, ihm habe niemand geholfen, als er nach London kam, er habe monatelang in einer ausgebrannten Bank in der Nähe von Paddington gelebt und das wünsche er niemandem, schließlich müssten Menschen ein bisschen Ruhe haben. Über die Miete könnten sie sich Gedanken machen, sobald sie Geld verdienten, vorher nicht. Also zogen sie in das Haus in der Quilling Road im East End. Er verlangte lediglich die Adresse eines Menschen, dem sie voll vertrauten – falls sie sich aus dem Staub machen sollten. Dann gab er ihnen einen Schlüssel und ließ sie allein.«
Während Anselm erzählte, zündete Roddy Streichhölzer an und hielt sie über den Pfeifenkopf.
»Ab und zu kam er vorbei und erkundigte sich, wie sie zurechtkämen und ob sie schon Arbeit gefunden hätten«, erzählte Anselm weiter. »Aber ganz allmählich änderte sich etwas. Sie sahen ihn morgens am Ende der Straße stehen. Abends ebenso. Er stand einfach da und rieb sich die Hände warm. Dann verschwand er wieder. Und wenn er später zu ihnen ins Haus kam und fragte, was die Arbeitssuche mache, sagte er kein Wort darüber, dass er in der vorigen Woche in der Gegend war. So ging es weiter: Sie sahen ihn draußen in der Nähe einer Straßenlaterne stehen, dann verschwand er und tauchte ein paar Tage später wieder auf, immer an derselben Stelle, als ob er wartete – manchmal morgens, manchmal abends. Schließlich gingen sie hinaus und fragten ihn, was los sei.«
Im Zug nach London hatte Anselm mehrmals die Zeugenaussage eines Mädchens namens Anji gelesen. Sie hatte die Konfrontation mit Riley ausführlich geschildert: »Wieso hängen Sie ständig hier rum?«
»Weil ich Angst habe.«
»Wovor?«
»Nicht um mich … um euch.«
»Um uns?«
»Ja. Um euch alle.«
»Wieso?«
»Der Hausbesitzer ist es leid zu warten und will seine Miete.«
»Sie haben doch gesagt, das Haus gehört Ihnen.«
»Nein, ich habe gesagt, ich hätte ein Haus. Es gehört mir nicht. Ich kassiere nur die Miete … für ihn.«
»Für wen?«
»Den Pieman.«
»Wen?«
»Den Pieman … so nennt er sich. Er hat viele Häuser und will seine Miete haben. Ich habe euch nur hier
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