Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
zu niedrig, weil er zu groß war … das hatte seine Mutter jedenfalls gesagt … also bückte er sich, um hineinzuschauen. Trotz Sonne war er nicht sonderlich braun geworden. Aber er hatte Sommersprossen und strohblonde Augenbrauen bekommen. Als ob dieses verwirrte Gesicht es wissen müsste, fragte er sich, wieso ein Anwalt ihn nach dem East End gefragt hatte statt nach Dingos; wieso eine Inspektorin einem Witwer nachgegangen war; und wieso seine Mutter einen Schlüssel, ihr Geheimnis, nicht nur vor ihrem Mann, sondern auch vor ihm versteckt hatte.
5
PATER ANDREW LIEBTE den Spruch eines Wüstenvaters: »Führe nicht unnütz weise Worte im Mund.« Vielleicht erklärte das, weshalb er immer vorsichtig war, wenn er etwas sagte. Und weshalb es beunruhigend war, wenn man spürte, dass er sich anschickte, etwas zu sagen.
Am Tag nach der Beerdigung lief Anselm Pater Andrew im Kreuzgang über den Weg. Der Prior blieb stehen und beäugte Anselm mit einer Miene zwischen Erwartung und Nachdenklichkeit.
»Schöner Tag zum Apfelpflücken«, sagte Anselm.
»Was?«
Anselm wiederholte seine Feststellung, die er für eine liebenswürdige Bemerkung hielt.
»He?« Der Glasgower Tonfall deutete auf bevorstehende Auseinandersetzungen hin.
O nein, dachte Anselm. Er will die Einteilung der Gemeinschaftsarbeit ändern. Beim Prior lockerte sich immer eine Schraube, wenn er vorhatte, Leute von einem Aufgabenbereich in einen anderen zu versetzen, weil alle sich beklagten. Pater Andrew wartete ein Weilchen und schlenderte dann davon. In aufwallendem Schrecken dachte Anselm an die neue Aufgabenverteilung: Es könnte sein, dass er in die Küche verbannt würde – eine Art Vorhölle, wo man es außer an Festtagen niemandem recht machen konnte. Aber dann kam er auf das Naheliegende: dass die schlechte Laune des Priors mit Elizabeth’ Tod, Cartwrights Besuch und … einem unbenutzten Schlüssel zu tun hatte. Sie waren sich ähnlich. Und der Prior wartete auf Anselm. Er hatte ihm etwas zu sagen. Aber wieso bestellte er ihn nicht zu sich? Wieso die bösen Blicke?
Anselm überlegte, dass er besser früher als später zu BJM Securities gehen sollte. Zuerst musste er sich allerdings ein paar nagenden Erinnerungen stellen, die sich um den Schlüssel rankten. Unbehaglich machte Anselm sich auf den Weg nach Saint Leonard’s Field und dem angenehmen Ambiente körperlicher Arbeit.
Die Bäume waren schon mit Mönchen gesprenkelt. Neben einem Handwagen stapelten sich Kisten. Leitern und Gabelstützen reckten sich in die Äste. Über allem lag ein zufriedenes Gemurmel. So war es immer beim Apfelpflücken, selbst wenn die Nerven im Kloster blank lagen – wie es der Fall war, seit Cyril angefangen hatte, wegen fehlender Buchungsbelege herumzumeckern. Außerdem rückte Weihnachten näher. Das machte die Brüder immer nervös.
Anselm suchte sich einen unbemannten Baum mit dichtem Laub. Er kletterte auf einen dicken Ast, lehnte sich zurück und drehte sich eine Zigarette. Seine Gedanken schweiften zurück zu Elizabeth’ Bemerkung über das »Nichtwissen und Sich-nicht-darum-kümmern-Dürfen«. Die Äußerung passte nicht zu der wortgewaltigen Verfechterin des angelsächsischen Rechtssystems, die er bei Gericht gekannt hatte.
»Weißt du«, hatte sie bei einer ihrer Plaudereien erklärt, »vor Gericht geht es um Beweise, nicht um die Wahrheit. Wir müssen die Wahrheit um der Wahrheit willen vergessen. Die Wahrheit ist außer Reichweite. Wenn wir im Gericht auftreten, sollten wir nicht so tun, als ob es uns um die Wahrheit ginge. Darum geht es uns nämlich nicht. Uns geht es um das, was unser Mandant uns als Wahrheit darstellt. Damit kann ich leben. Es ist die einzige Möglichkeit, Unschuld ernst zu nehmen, wenn sämtliche Indizien in die entgegengesetzte Richtung deuten. Wahrheit? Was ist das? Es ist das, was die Geschworenen entscheiden, nachdem ich mich hingesetzt habe.«
Keine Spur von Unbehagen, dachte Anselm und blies einen perfekten Rauchring in die Luft.
Damals hatte Anselm auf einem Jaffa-Keks gekaut und ihrer Selbstsicherheit entgegengehalten: »Aber was ist, wenn jemand ungestraft davonkommt, weil der Prozess eine falsche Wendung nimmt und niemand es merkt?«
»Das kann nicht sein«, hatte sie mit einem Blick auf die Uhr erklärt. Sie hatte wieder in den Gerichtssaal gehen müssen.
»Die Geschworenen hören nichts anderes als konkurrierende Versionen der relevanten Fakten. Hast du den letzten Keks gegessen?«
»Ja, tut mir
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