Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
arbeitete bereits in Würzburg.
Ich lernte Pavninder Singh fünf Wochen vor seinem Tod kennen, am 6. Oktober 2011. Für ihn sollte ich in diesen letzten Wochen eine größere Rolle spielen, als ich ahnte, kam ich doch »nur« für ein Interview.
Sein Selbstmordversuch lag damals bald drei Jahre zurück. Zweieinhalb Jahre lebte er nun mit dem Implantat im Brustkorb. Es hatte nie die geringsten Anzeichen für eine Abstoßung gegeben, wusste ich von Walles. Weil sich im Körper alles ständig erneuert, war vom Schweinedarm nichts mehr übrig – er war komplett abgebaut und durch körpereigenes Bindegewebe ersetzt worden. Singh war nach wie vor der einzige Mensch, bei dem dieser Eingriff je gelungen war – eine Weltsensation.
Der Inder lebte immer noch mit Inge Bäuerle in jener Zweizimmerwohnung in einer schwäbischen Kleinstadt, in der die Couchgarnitur zerschlissen war und der Fernseher eine alte Flimmerkiste. Er empfing mich auf der Straße. Ein schmächtiger Mann, langer Bart und orangefarbener Turban, graue Anzughose und blaues Hemd, beides zwei Nummern zu groß. Herzlich schüttelte er meine Hand. Das sei ein wichtiger Tag für ihn, sagte er und führte mich in seine Hochparterre-Wohnung, die in einem Hochhaus unweit des Bahnhofs zwischen Industriebetrieben und einer vielbefahrenen Straße lag. In der Ferne rauschten die Züge vorbei. Im Treppenhaus weiße Türen mit Kunststoffknäufen, keine Namensschilder. An seiner Tür aber hing ein mit Gurmukhi-Buchstaben beschriftetes rotes Herz – »Waheguru«, der Name seines Gottes, erklärte er mir. Er habe es in der Beschäftigungstherapie selbst aus Pappe geschnitten und bemalt.
In der Wohnung roch es wie in einem indischen Restaurant. Wir setzten uns in die Couchecke zu seiner Frau Inge, die uns erwartete. Er nahm eine eigentümliche Körperhaltung ein, zog den rechten Oberschenkel an die Brust, so dass er seinen Arm aufs Knie stützen konnte, und fuhr mit der Hand unter seinen Bart. Später erklärte er mir, warum: Dort befand sich immer noch das Tracheostoma, die künstliche Öffnung der Luftröhre nach außen. Davon hatten die Erfolgsmitteilungen aus der Pressestelle des Krankenhauses nichts berichtet. Singh musste das Loch mit der Hand zuhalten, um zu sprechen.
Den Bart habe er früher nicht getragen, obwohl er schon immer religiös gewesen sei, sagte er. Der Bart war aus anderen Gründen wichtig: »Niemand soll das Loch sehen, sonst kommen immer diese Fragen, und weil ich nicht lügen kann, muss ich dann immer die ganze komplizierte Geschichte erzählen. Das will ich nicht mehr.« Auch seine Körperhaltung rühre daher, erklärte er, so falle nicht sofort auf, dass er seine Hand an den Hals legen müsse, um zu sprechen. Immer wieder wurde seine auffallend helle, klare Stimme von Husten und Röcheln unterbrochen.
Warum brauchte der Inder diese Öffnung noch? Zunächst habe Dr. Walles sie operativ verschlossen, erklärte Singh. Aber dann habe er sich immer verschluckt, Nahrung und Speichel seien in die Luftröhre gelangt. Denn der Backofenreiniger hatte auch den Kehldeckel im Rachen verätzt. Narben waren gewuchert, jetzt schloss er beim Schlucken nicht mehr richtig.
Viele Stunden erzählte Singh die Geschichte seiner Flucht, von den einsamen ersten Jahren in Deutschland, vom Kennenlernen mit Inge, von den harten Jahren danach, der ständigen Geldnot. Nur selten unterbrach sie ihn, er wurde dann fast unwirsch, riss das Wort wieder an sich.
»Du kannst das doch gar nicht wissen, Schatzi!«
»Ich rede jetzt, nicht du.«
Als wir zusammen die Fotos ihrer Hochzeitsreise betrachteten, stiegen ihm die Tränen in die Augen, und ich hörte ein fremdartiges Geräusch, das ich nie vergessen werde: das stoßweise Einatmen von Luft durch sein Tracheostoma.
Als der Abend schon dämmerte und er, erschöpft vom vielen Reden, schwieg, sagte Inge Bäuerle leise: »Vieles davon habe ich gar nicht so genau gewusst. Jetzt verstehe ich besser, warum du dir damals das Leben nehmen wolltest.« Er sagte nichts.
Das Loch im Hals war sein Elend. Er arbeitete deshalb nicht, und nur selten erlaubte er Inge, ihre Freundinnen nach Hause einzuladen. Seine Freunde, die er über den Glauben gefunden hatte, kamen ebenfalls nur selten vorbei. Wie er seine Tage in jenen Jahren verbrachte, erfuhr ich viele Wochen später von seiner Frau. Stundenlang kniend im Gebet versunken oder aber im Internet, wo er sich mit Menschen austauschte, die unglücklich waren wie er, von denen sie
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