Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
bis ans natürliche Ende seiner Tage.
Walles sah Singh zum ersten Mal am 25. Februar 2008, zweieinhalb Monate nach dem Selbstmordversuch. Der Inder saß im Schneidersitz auf dem Bett, verharrte so in einer fast unbeweglichen Starre, den Rücken gerade durchgedrückt, den Kopf kahl geschoren, weißes OP-Hemd. Walles fühlte sich an einen Fakir erinnert. Singhs Augen waren ängstlich geweitet, immer wieder wurde sein abgemagerter, zerbrechlich wirkender Körper von Hustenanfällen geschüttelt, vor sich hielt er eine Nierenschale für den Auswurf, den er über sein Tracheostoma, die künstliche Öffnung im Hals, absonderte. Walles kannte diese Angst vor dem Ersticken von Menschen, in deren löchrige Luftröhre ständig Speichel und Gewebsflüssigkeit eindringen.
Immerhin gut, dass er sich so aufrecht hielt, 90 Grad, ideale Position, dachte der Arzt. Denn in dieser Haltung konnte kein Magensaft in die verstümmelte Luftröhre eintreten. Das war die größte Gefahr. Der Magensaft würde beginnen, die Lunge zu verdauen. Eine lebensbedrohliche Lungenentzündung wäre die Folge.
Das sagte er zu Singh, und der nickte kräftig – sprechen konnte er nicht, wegen des Tracheostomas gelangte keine Ausatemluft aus den Lungen in seinen Kehlkopf, wo die Stimmbänder liegen. Die Krankenschwester schwärmte, alle vom Pflegepersonal seien beeindruckt von der großen Disziplin ihres Patienten. 18 Stunden halte er es jeden Tag in dieser anstrengenden Position aus. Walles hatte schon einige Patienten mit Luftröhrendefekten gesehen, aber noch nie einen, der in dieser Situation einen derart eisernen Willen an den Tag legte. Dieser Patient will leben, dachte er. Und mit diesem Willen war alles möglich, ohne ihn nichts.
Walles war es gewohnt, Patienten gegenüberzustehen, die durch ihre Krankheit zum Schweigen verurteilt waren. Natürlich konnte man sich mit ihnen über Papier und Stift verständigen, aber Walles konnte auch vieles aus Blicken und Gesten lesen. Im Schwimmverein hatte er eine gehörlose Jugendfreundin gehabt – durch sie hatte er gelernt, die Gesichter der Sprachlosen zu deuten, mit ihnen in einen stummen Dialog zu treten.
Ihre Augen begegneten sich, Walles spürte, er würde einen guten Draht zu Singh bekommen. Es waren warme, kluge Augen. Dieser Mann würde verstehen, was er ihm gleich erklären würde. Außerdem konnte er in ihnen noch etwas anderes lesen: Humor – oder zumindest die Veranlagung dazu. Das ist gut!, dachte er, dich bekomme ich zum Lachen, hier und jetzt. Als er dann von der Ehefrau hörte, dass Singh gerne wieder essen würde, plazierte er einen gewagten Satz, der schon öfter gut funktioniert hatte: »Nun ja, das ist gerade schwierig. Noch sind Sie ja nicht ganz dicht …« Er blickte Singh unverwandt an, sah, wie es in ihm arbeitete, seine Mundwinkel zuckten. Und dann lachten diese Augen. Das Eis war gebrochen.
Später erzählte Singh über diese erste Begegnung, er habe gespürt, dass der Arzt ihn nicht verurteilte, auch nicht auf falsche Weise betroffen gewirkt habe wie manch anderer am Krankenbett. Alles, was er danach von Walles hörte, schien nicht mehr so schlimm, weil er sofort Vertrauen zu dem jungen Arzt gefasst hatte: Dass man seine Speiseröhre leicht würde ersetzen können durch ein Stück eigenen Darm – ein Routineeingriff. Dass aber zuvor die Luftröhre geflickt werden müsse, weil sonst die im Hals schwelende Entzündung die Ersatzspeiseröhre zerstören würde.
Dass dies am besten durch einen experimentellen Eingriff geschehe. Walles würde Singh dafür aus dem Oberschenkel ein fingernagelgroßes Stück Haut, Bindegewebe und Muskel entnehmen, mehr brauche er nicht. Im Labor würde daraus eine Luftröhre wachsen. Niemand könne Singh den Erfolg garantieren, möglicherweise würde er trotzdem sterben.
Aber für diese vage Hoffnung würde Singh noch einen Monat kämpfen müssen – gegen den Husten, gegen die Erstickungsanfälle, gegen die Todesangst. In aufrechter Haltung, 18 Stunden am Tag. Ein Monat, so lange würde es brauchen, bis der Organersatz im Labor gereift war.
Das Gerüst für Singhs künftige Luftröhre war ein weißer Schlauch, acht Zentimeter lang, so dick wie der Zeigefinger eines Kleinkinds. Früher war durch diesen Schlauch Nahrung geflossen, er stammte aus dem Darm eines Schweins.
Würde man den Schweinedarm unter dem Mikroskop betrachten, sähe man, dass ihm etwas fehlte: Zellen. Denn der Schlauch bestand nur noch aus Bindegewebsfasern, die
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