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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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weiter nichts wusste. »Ich will meinen alten Pavninder zurück«, sagte sie manchmal. Dann hielt er ihr das Buch eines Geistlichen unter die Nase und sagte: »Lies das, damit du mich besser verstehst.«
    Irgendwann würde er sie verlassen, hatte Inge geglaubt. »Auch wegen des Alters. Ihm war es ja wichtig, Familie zu haben, und mit mir konnte er keine Kinder mehr bekommen«, erklärte sie später. Die beiden hatten offen darüber gesprochen. Sie sagte: »Wenn es so weit ist, lass es uns fair machen. Ich will Teil deines Lebens bleiben.« Er habe ihr geantwortet, er wisse, dass es irgendwann zur Trennung kommen müsse, könne sich aber ein Leben ohne sie nicht vorstellen.

    Eine Woche vor seinem Tod rief mich Singh vormittags an. »Sie müssen helfen, bitte.« Er war in die psychiatrische Klinik am Ort eingeliefert worden, aber die könnten ihm nicht helfen, sagte er, weil sie nicht zuhörten. Die Geldnot treibe ihn um, seine Invalidenrente und die Einkünfte Inges reichten nicht, er könne seiner Familie nichts mehr schicken. Seine jüngste Schwester werde bald heiraten, er müsse 20000 Euro für die Hochzeit sparen, aber an den Monatsenden bleibe nichts übrig.
    Er leide unter dem Sohn seiner Frau, ein Student Mitte 30, der sie besuchen komme, um Geld bitte, den Kühlschrank leer esse, das Benzin verfahre. »Dabei weiß er doch, wie knapp wir es haben!« Wir sprachen lange. Ich könne nicht gleich vorbeikommen, erklärte ich ihm. Er solle unbedingt mit der Psychologin an der Klinik sprechen, besser als mit den Ärzten, und sie bitten, ein Vermittlungsgespräch mit ihm und seiner Frau zu führen.
    Er versprach es. Dankte höflich. Sagte mir außerdem, dass er alles aufschreibe, seine Lebensgeschichte, die Probleme, die ihn unglücklich machten – für mein Buch. Das hatten wir vereinbart.
    Zu der Aussprache kam es nie. Als die Ärzte ihn entließen, ging er nach Hause, telefonierte mit seiner Frau, sagte, alles sei gut, er erwarte sie abends, sie solle sich keine Sorgen machen. Er kochte sich ein indisches Spinatgericht. Die Reste fand sie im Topf, als sie später nach Hause kam. Da lebte er schon nicht mehr, hatte sich unter einen Zug gelegt. Nicht quer zu den Gleisen, sondern längs, so hatte die Polizei ihn gefunden. »Vielleicht wollte er nur spüren, wie das ist, wenn der Zug über einen fährt«, versucht Inge Bäuerle es zu erklären. Doch der Luftdruck vor der heranrasenden Lok hatte ihn herumgewirbelt.

    Thorsten Walles will es nicht wahrhaben. »Mir hat er zuletzt gesagt, es gehe ihm gut, er habe sogar wieder Fußball gespielt.« Sie waren doch so nah am Ziel gewesen, und Singh habe das gewusst. Er hätte nicht mehr lange mit dem Loch im Hals leben müssen. Sicher, die beiden Chefärzte von Hals-Nasen-Ohren-Kliniken, die Walles hatte überreden wollen, den Kehldeckel des Inders zu operieren, hatten abgelehnt. Zu hohes Risiko. Er hatte nicht lange mit ihnen diskutiert, als Assistenz- und später Oberarzt wäre er nicht weit gekommen, glaubt er. Doch als ordentlicher Professor in Würzburg hätte er andere Möglichkeiten gehabt. Schon hatte er mit seinem künftigen Chefarztkollegen der HNO-Klinik in Würzburg darüber gesprochen, der hatte sich optimistisch geäußert. Es wäre wahrscheinlich nur noch eine Frage von wenigen Monaten gewesen. Vielleicht hätte er es Singh deutlicher, eindringlicher erklären müssen. Vielleicht hatte der Inder ihn nicht wirklich verstanden.

    Singh war, glaube ich, in Deutschland immer auf der Suche nach einem Ansprechpartner für alle medizinischen Fragen und Lebensfragen gewesen. Zeitweise mag er sich erhofft haben, dass Thorsten Walles dieser eine Mensch sei. Doch der Thoraxchirurg hatte nichts davon geahnt. Und vermutlich hätte er seinem Patienten nicht das bieten können, was dieser wirklich brauchte – eine tiefe Freundschaft. Er hatte ihm sein Leben zurückgeschenkt, doch hatte er nicht vermocht, dem Inder die Verzweiflung des Entwurzelten, Heimatlosen zu nehmen, die den Mann schließlich in den Selbstmord gestürzt hatte.
    Auch von mir hatte Singh sich mehr versprochen, als ich gegeben habe. Vielleicht sah er in mir nicht nur den Autor, hinter dem die Öffentlichkeit stand, sondern auch den Arzt. Einen Arzt aber, mit dem er auf Augenhöhe sprechen konnte, anders als mit seinen Psychiatern. Er hatte wohl die Hoffnung, dass sich etwas Fundamentales ändern würde, wenn er sich mir anvertraute. Das Gespräch mit Singh war mein erstes Interview für dieses Buch, und

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