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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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Rettungssanitäter eine junge Frau auf einer Trage in die Kabine. Nie würde er vergessen, wie sich ihre Augen vor Angst weiteten, als ihr Blick an seinem Habit entlang zu seinem Gesicht emporwanderte.
    »Wer hat denn den Pater gerufen?«, flüsterte sie, aus ihrer Stimme klang Entsetzen.
    Pater Raphael arbeitete seit sechs Jahren als katholischer Seelsorger am Klinikum. Täglich besuchte er Menschen in Todesangst, doch er war gewohnt, dass sein Erscheinungsbild sie eher beruhigte als verängstigte. Diese Frau aber war offensichtlich gerade mitten aus dem Leben gerissen worden, und sein Habit bedeutete ihr nur eines: Sterben und Tod.
    »Ich mache hier nur meine Besuche auf den Stationen und stehe ganz zufällig im Fahrstuhl«, versuchte er ruhig zu antworten. »Und Sie?«
    Er erfuhr, dass sie schwanger war, Zwillinge. Dass ihr niedergelassener Frauenarzt wohl soeben ein Problem am Muttermund entdeckt hatte. »›Sie bleiben gleich hier liegen, ich hole den Notarzt‹, hat er zu mir gesagt.«
    Dann öffnete sich auch schon die Fahrstuhltür, und sie war weg. Der Pater aber blieb zurück, verwirrt und aufgewühlt.

    Der Chef der Gynäkologie, Professor Ludwig Spätling, war ein väterlicher Mann mit grauem Bart und Charisma. Er strahlte Ruhe aus, und Yvonnes Panik schwand allmählich. Nachdem er die Situation erfasst hatte, erklärte er ihr, dass ihr Muttermund sich zu weit geöffnet habe. Die Fruchtblase, in der ihre Zwillinge schwammen, habe sich drei Zentimeter in ihre Vagina vorgeschoben, sie drohe zu platzen. »Aber machen Sie sich keine Sorgen, das bekommen wir in den Griff!« Sein Blick war herzlich, sie hatte den Eindruck, dass er mitfühlte. Bei diesem Arzt fühlte sie sich sicher.
    Der Eingriff dauerte eine halbe Stunde. Spätling legte mit wenigen Stichen ein Kunststoffbändchen um den Gebärmutterhals und zog dieses zu – wie einen Tabakbeutel. Danach sagte er: »Bis zur 38. Woche werden die beiden es nicht aushalten«, sagte er. In der 38. Woche, wusste Yvonne, leiten die Ärzte bei Zwillingen normalerweise die Geburt ein. »Aber das ist heute kein Problem mehr«, so Spätling weiter. »Meine eigenen drei sind alle früher gekommen, und die haben sich prächtig entwickelt.« Yvonne wagte nicht zu fragen, was passiert wäre, wenn er nicht so rasch eingegriffen hätte. Hätten die Zwillinge schon eine Chance gehabt?

    Die Berechnung der Schwangerschaftsdauer ist eine komplizierte Angelegenheit: Erfolgt die Empfängnis durch Geschlechtsverkehr, gilt der erste Tag der letzten Regelblutung offiziell als Schwangerschaftsbeginn. Das ist eigentlich paradox, denn Ei und Spermium können ja erst nach dem Eisprung aufeinandertreffen und verschmelzen – also zwei Wochen später. Da jedoch kaum eine Frau den Tag ihres Eisprungs kennt, haben sich die Frauenärzte international auf diese Art der Berechnung geeinigt. Das bedeutet aber: Jedes Kind ist in Wirklichkeit etwa zwei Wochen jünger, als die Schwangerschaftswoche vorgaukelt.
    Bei künstlich gezeugten Kindern spielt der Eisprung keine Rolle. Aber die im Grunde falsche Berechnung wird auch hier angewandt, um Vergleichbarkeit zu schaffen. Rechnerisch beginnt die Schwangerschaft der Mutter dann also zwei Wochen, bevor sie zum Arzt geht, um sich die Eizellen entnehmen zu lassen.

    Als Yvonne plötzlich heftige Unterleibsschmerzen bekam, war sie 21 Wochen und fünf Tage schwanger.
    Es war Sonntag, der 7. November 2010, seit zehn Tagen lag sie im Klinikum Fulda. Am Morgen sprang sie auf und schrie: »Ich glaube, ich habe Wehen!« Johannes stürmte aus dem Zimmer, er fand nur eine Lernschwester auf dem Gang, sie wirkte ungehalten.
    »Der Arzt macht Visite, bitte haben Sie noch ein wenig Geduld.«
    »Das ist ein Notfall, bitte holen Sie ihn sofort!«, rief Yvonne aus dem Zimmer, sie war außer sich. Ihr Herz raste. Diese Krämpfe! Dann ging alles ganz schnell. Untersuchungsraum, grelles Licht, kaltes Metall im Körper. Kein Fruchtwasser, sagte der diensthabende Arzt. Schmerzmittel, zurück aufs Zimmer. Sie wehrte sich, rief wieder die Schwester. Das konnten nur Wehen sein, noch nie zuvor hatte sie diese in Wellen wiederkehrenden Schmerzen gespürt! Wieder Gynäkologenstuhl. Der Arzt sagte: »Jetzt kann man es eh nicht mehr aufhalten.« Er wollte sie wieder zurück aufs Zimmer schicken. Hatte er sie schon aufgegeben? Sollte sie etwa dort allein ihren Abort bekommen, ohne Hebamme, ohne Krankenschwester? Sie schrie den Arzt an: »Sie können mich jetzt nicht alleine

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