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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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verstrichen.

    Der Junge kam am 7. November 2010 um 14.59 Uhr, drei Stunden nachdem die Wehen eingesetzt hatten. Er wog 469 Gramm, kaum mehr als viereinhalb Tafeln Schokolade, und maß 28 Zentimeter, weniger als ein DIN-A4-Papier. Er hatte die Augen geschlossen, lag schlaff in einem weißen Moltontuch, das die Hebamme den Kinderärzten entgegentrug, die direkt neben dem Bett warteten. Die Knochen schimmerten weiß durch die hauchdünne rote Haut, die von Blutergüssen übersät war. Er war mit den Füßen voraus gekommen, eine ungünstige Lage, der Gynäkologe hatte nicht vermeiden können, ihn hier und dort anzufassen, die hochempfindlichen Adern waren sofort geplatzt. Alle paar Sekunden schnappte er nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, aber vergeblich. Seine Lungen hatten sich noch nicht entfaltet.
    »Sieht doch gar nicht so schlecht aus«, sagte Repp leise zu seinem Oberarzt Isselstein. Er hatte schon kleinere Frühchen gesehen, immerhin hatte sich dieser Junge altersgerecht entwickelt, das sah er sofort. Dann machte sich Isselstein an die Intubation. Er hatte den ersten Versuch, so hatten sie es abgesprochen. Der Oberarzt beherrschte die Intubation wie kein anderer, Repp war froh, ihn im Team zu haben. Er beobachtete die geübten Handgriffe und hielt den Atem an. Wie leicht konnte der Schlauch, die Öffnung kaum größer als die einer Makkaroninudel, die Luftröhre des Babys beim Einführen verletzen. Schon bei der geringsten Dehnung würde die papierdünne Schleimhaut reißen. Im schlimmsten Fall würde sie so rasch zuschwellen, dass weitere Versuche unmöglich würden – der Junge würde vor ihren Augen ersticken. Repp würde in Sekundenschnelle übernehmen, falls Isselstein scheiterte. Niemand stand diese nervliche Anspannung zweimal durch. Falls auch er es nicht hinbekäme, gäbe es noch zwei Oberärzte mit ruhiger Hand. Doch Isselstein traf. Die erste Hürde war genommen!

    Das Mädchen sollte so lange wie möglich im Leib der Mutter bleiben. Vielleicht könnten sie die Geburt noch einen oder gar zwei Tage hinauszögern. So hatte es der Chefarzt der Gynäkologie am Telefon entschieden. Auch er war mittlerweile auf dem Weg in die Klinik.
    Es wäre sehr ungewöhnlich: Zwillinge, geboren an zwei unterschiedlichen Tagen – keiner der anwesenden Ärzte hatte je davon gehört, dass so ein Experiment geglückt war. Aber man könnte es versuchen. Jede zusätzliche Stunde im Mutterleib würde das Überleben wahrscheinlicher machen.
    Jetzt endlich konnte Repp mit den Eltern sprechen. Er nahm an, sie hatten schon genug über die Risiken gehört. Es war Zeit, fand er, von den Chancen zu reden: »Wir können alles versuchen, aber alles kann vergebens sein.« Und er erzählte von Hannes, der nur zwei Tage älter geboren war als ihr Kind, dem es heute gutgehe. Er sagte, dass die Entscheidung, die sie beide heute getroffen hätten, nicht unumkehrbar sei. Dass sie jetzt von Tag zu Tag gemeinsam sehen müssten, wie sich die Babys entwickelten. Dass sie alle offen dafür sein sollten, ihre Entscheidung später zu revidieren. Dass Sterben manchmal die bessere Option sei, auch wenn Leben technisch möglich sei.
    Yvonne und Johannes hörten aufmerksam zu und sagten nur wenig. Wie das Leben mit einem behinderten Kind aussehen würde, daran dachten beide damals nicht. Niemand hatte mit ihnen ausführlich darüber gesprochen, der Gesprächstermin mit einem Arzt war erst für die folgende Woche angesetzt gewesen. Sie waren über die theoretischen Gedanken, die sie sich viel früher gemacht hatten, nicht hinausgekommen. Später würden beide sagen, dass sie sich vielleicht gegen das Leben entschieden hätten, wenn sie damals genau nachgedacht hätten. Dass es ein großes Glück sei, dass sie diese Chance nicht gehabt hätten.

    Als Pater Raphael den Kreißsaal betrat, hatten sich alle Ärzte, Hebammen und Krankenschwestern zurückgezogen. Der Raum war in das warme Licht eines heruntergedimmten Deckenfluters getaucht und strahlte jetzt Wohnzimmeratmosphäre aus – Zimmerbaum mit Plastikblättern, große Fenster mit Blick auf die Hügelketten der Rhön in der hereinbrechenden Abenddämmerung. Die medizinischen Gerätschaften waren diskret verstaut worden im Nachttisch und Kleiderschrank in Eichedekor. Kaum vorstellbar, wie schnell sich dieser Raum verwandeln konnte – er war so konzipiert worden, um die Hochschwangeren zu beruhigen.
    Der Pater erkannte die Frau im Bett sofort wieder und war erleichtert. Ausgerechnet

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