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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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Schwangerschaftswoche. Ich wog 830 Gramm. Meine Mutter sagt, dass es wohl ums nackte Überleben ging, ich hatte große Probleme mit meinen Lungen.«
    Repp erinnerte sich schlagartig! 26. Woche, doppelter Pneumothorax. Er sah die Eltern vor sich, der Vater war Feuerwehrmann, die Mutter Buchhalterin. Sie waren verzweifelt, es war ihr erstes Kind, und angesichts ihres Alters war nicht gewiss, ob es danach noch mal klappen würde. Beide Lungen des Jungen waren kollabiert, weil darin ein körpereigener Stoff – der Surfactant – fehlte, der die Lungenbläschen offen hält. Alle Frühgeborenen haben dieses Problem. Damals starben deshalb viele Babys an Lungenversagen, obwohl es schon ein Medikament gab, das die Lungenreifung vorantreiben konnte. Sie hatten viele Wochen um das Überleben des Jungen gekämpft. Am Ende war die ganze Klinik stolz gewesen auf das jüngste Frühgeborene, das die Uniklinik Gießen bis dato lebend verlassen hatte.
    Nun wuchtete dieser Mensch vor seinen Augen schwere Kisten, groß, blonde Haare, intensive blaue Augen hinter einer silbern gerahmten Brille. Damals hatten die Chancen hoch gestanden, dass er schwer behindert sein würde. Die Begegnung prägte Repp nachhaltig. Er nahm sich vor, sich nie nur von Zahlen leiten zu lassen, wenn es um die Entscheidung über Leben oder Tod eines Frühgeborenen ging.
    Was wussten Ärzte schon darüber, wie heute die langfristigen Chancen derer standen, die in den Neonatologie-Leitlinien trocken als »Frühgeburt an der Grenze zur Lebensfähigkeit« bezeichnet wurden? War es nicht anmaßend, eine solche Grenze zu ziehen? Es gab keine Studien, aus denen man sichere Schlüsse ziehen konnte. Vielmehr kristallisierte sich mittlerweile heraus, dass die Prognose der jüngsten Neugeborenen ganz entscheidend davon abhing, wo sie zur Welt kamen. Repp hatte Statistiken des Landes Hessen, die das belegten. Erst ab Schwangerschaftswoche 27 herrschte Gleichstand. Kinder aber, die vor Woche 23 geboren wurden, hatten bisher landesweit nur an seiner Klinik je überlebt, und zwar in zwei Fällen. Und das lag nicht nur daran, dass er die ganze Bandbreite modernster Technik einsetzte, um »Zombies« zu produzieren, wie Gegner der Maximaltherapie gerne kritisierten. Nein, auch die schweren Komplikationen, die später zu körperlichen und geistigen Behinderungen führten, traten an seiner Klinik seltener auf.
    Manche Fachkollegen behaupteten, dass frühgeborene Mädchen bessere Aussichten als Jungs hätten. Auch das fand Repp anmaßend. Im Jahr 2009 wurde an seiner Klinik in Fulda Hannes geboren, 22 Wochen und null Tage. Jetzt war der Junge bald ein Jahr alt und entwickelte sich bislang recht gut.
    In den Niederlanden oder der Schweiz hätten die Ärzte nichts für Hannes getan – dort wurden Frühgeborene vor der abgeschlossenen 24. Woche als Spätaborte betrachtet. Auch wenn ihre Herzen schlugen, sie gar die Augen aufrissen, wenn sie die Welt erblickten.
    In Deutschland hatten die Fachgesellschaften der Frauenärzte und Kinderärzte jahrelang um verbindliche Empfehlungen gerungen, und das Ergebnis lag seit einigen Wochen auf Repps Schreibtisch: die neueste Fassung der Leitlinien der Fachgesellschaften der Frauen- und Kinderärzte. Vor der vollendeten 23. Schwangerschaftswoche, hieß es dort, sei die Entscheidung »im Konsens mit den Eltern« zu treffen. Im Klartext: Die Ärzte sollten die Eltern darüber aufklären, dass ihr Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit schwer behindert sein würde, wenn es überlebte. Falls sich die Eltern dann gegen das Kind entschieden, würde es nicht intubiert und beatmet, kaum dass es den Mutterleib verlassen hatte.
    Wie mit Frühgeborenen vor der 22. Schwangerschaftswoche zu verfahren sei, darüber ließen die Leitlinien keinen Zweifel: »In der Regel wird man auf eine initiale Reanimation verzichten.« Von einem Konsens mit den Eltern war hier nicht die Rede.
    Doch die Eltern, die Repp jetzt im Kreißsaal erwarteten, hatten die Ärzte ihres Entscheidungsspielraums beraubt. »Maximaltherapie!« Im Auto nahm Repp sich vor, noch einmal deutlich zu machen, dass die Zwillinge nach vernünftigen Maßstäben nicht lebensfähig waren. Dass sie zwar mit Hilfe der modernsten Technik vorübergehend am Leben gehalten werden konnten, aber ob dies zum Wohle der Kinder sei?
    Doch im Krankenhausflur hörte er schon aus der Ferne die Schreie der Gebärenden, und er wusste: Die Zeit für grundlegende Diskussionen und langfristige Überlegungen war

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