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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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lassen! Bringen Sie mich in den Kreißsaal.« Nach wenigen Minuten eilte eine junge Ärztin hinzu, ergriff ihre Hand, beschwichtigte sie, versprach ihr, sie würden jetzt alles tun, um ihr zu helfen.
    Später würde sich der Professor Spätling furchtbar aufregen, dass der Arzt – eine Aushilfskraft – sie in dieser Situation allein gelassen hatte. »Der kannte unsere Gepflogenheiten nicht.«

    Professor Reinald Repp wusste, dass er ungewöhnlich aussah. In den Gesichtern las er oft Erstaunen oder sogar Erschrecken. Der Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Krankenhauses Fulda hatte sich daran gewöhnt, immer zuerst zu erklären, warum er keine Augenbrauen hatte und sein Kopf kahl war. Er sei nicht schwer krank und mache keine Chemotherapie, vielmehr handele es sich um eine ansonsten harmlose Autoimmunkrankheit, die ihm vor zehn Jahren alle Haare geraubt habe.
    Als der Anruf aus der Klinik kam, war er gerade auf dem Rückweg von einem Wochenendbesuch auf dem hessischen Land bei seinen Eltern. Eine 33-Jährige mit Zwillingen, Schwangerschaft seit 21 Wochen und fünf Tagen.
    »Die Eltern wollen Maximaltherapie!«, sagte der Oberarzt. Die Gynäkologen hatten ihn sofort informiert. Bei Frühgeburten waren stets Ärzte beider Kliniken im Kreißsaal.
    »Ist der Schwangerschaftstag gesichert?«, fragte Repp. Bei der Berechnung passieren oft Fehler, vor allem, wenn die Frauen direkt von zu Hause kommen. Drei bis vier Tage Unschärfe sind normal. Manchmal aber täuschen sich werdende Eltern auch um zwei Wochen, weil sie fälschlicherweise vom Tage des Geschlechtsverkehrs ausgehen anstatt vom ersten Tag der letzten Regel. Bei einer so kurzen Schwangerschaft aber würde jeder Tag im Mutterleib, ja jede zusätzliche Stunde von entscheidender Bedeutung sein.
    Der Oberarzt: »Die Frau hatte ICSI und liegt seit zehn Tagen hier.«
    »Aha«, sagte Repp. Künstliche Befruchtung – also kein Zweifel! »Die Zwillinge können unmöglich überleben. Haben Sie das den Eltern gesagt?«
    »Natürlich! Dass kein Fall bekannt ist, in dem …«
    »Ich komme. Und sagen Sie den anderen Bescheid, ja?«
    Sie würden zu viert sein, drei Oberärzte und er selbst. So wären sie auf der sicheren Seite, zwei pro Baby. Emotionaler Back-up, so nannte Repp das Prinzip, man fühlte sich einfach sicherer, wenn hinter einem jemand stand, der sofort übernehmen konnte. In Situationen wie der heutigen zählte es nicht, wer Dienst hatte und wer nicht, alle rückten ein, so schnell es ging. Nachdem die Frühchen entbunden waren, würden Sekunden darüber entscheiden, ob sie lebten oder nicht.
    Als Repp seiner Frau Elsbeth am Telefon mitteilte, er komme nicht zum Abendessen, nahm sie es gelassen. Er hatte sich schon anderes geleistet. Einmal hatten sie alle schon im gepackten Auto gesessen, Campingurlaub in Frankreich, als der Anruf aus der Klinik kam, Drillinge. Repp fand, er dürfte nicht fehlen. Die Kinder auf der Rücksitzbank hatten geweint und geschrien, Elsbeth hatte indirekt mit der Scheidung gedroht, es nutzte nichts. Sie waren eine Woche später gefahren. Ein bisschen verstand sie ihn, schließlich arbeitete auch sie als Kinderärztin.

    Hatte irgendwo auf der Welt ein Frühgeborenes überlebt, das vor der 22. Schwangerschaftswoche geboren wurde? Repp müsste es doch wissen! In den vergangenen Jahrzehnten war er immer wieder an die Grenzen gegangen. Diese Grenzen verschwammen zusehends.
    Als Repp in den achtziger Jahren als Assistenzarzt in Gießen arbeitete, galt es als großer Erfolg, wenn ein Frühgeborenes in der 28. Schwangerschaftswoche ohne größere gesundheitliche Schäden überlebte. Heute hatten solche Babys eine fast normale Lebenserwartung, wenn sie nach ihrer Geburt in einem Perinatalzentrum der höchsten Versorgungsstufe behandelt wurden.
    Repp hatte einige Jahre zuvor ein Schlüsselerlebnis gehabt, als er seine Klinik auf einer öffentlichen Veranstaltung den Fuldaer Bürgern vorstellte. Poster hingen an den Wänden, Broschüren waren ausgelegt, ein Brutkasten aus der Klinik war aufgebaut. »Ich habe auch mal in so einem gelegen«, sagte ein junger Mann, der für das Bistum Fulda Stände aufbaute. Repp kam mit ihm ins Gespräch.
    Der junge Mann, Florian hieß er, absolvierte eine Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten und erzählte, er sei 1988 in Gießen geboren worden. »Uniklinik Gießen? Dann könnten wir uns ja über den Weg gelaufen sein«, sagte Repp. »Wie früh kamen Sie denn zur Welt?«
    »26.

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