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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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Suchtgefahr der Opiate. Sie dürfen trinken und sich die Füße nass machen«, erklärte Haag, »aber Sie müssen am diesseitigen Ufer des Schmerzes bleiben!« Er schloss Ute Köhler an einen Monitor an, um ihre Kreislauffunktionen zu überwachen. Er schärfte ihr ein, sich sofort zu melden, wenn ihr unwohl würde. Dann spritzte er ihr Morphin, zu Beginn eine höhere Dosis. Über den Katheter gelangte es in die Umgebung des Rückenmarks, das von einer äußeren Haut umgeben ist. Es verteilte sich im Nervenwasser, drang nach innen und entfaltete dort seine Wirkung. In der folgenden Stunde spürte Ute Köhler den Schmerz allmählich schwinden. Sie hatte noch einen Fuß am Ufer, als der Strom sie plötzlich fortriss. Ihr wurde schwindlig, ihre Muskeln verhärteten sich, Übelkeit überkam sie, sie erbrach sich im Schwall.
    »Muss wegen Unverträglichkeit abgebrochen werden«, notierte Haag am 9. November 1999 in dem Schmerzprotokoll, das er täglich aktualisierte. Es folgten zweieinhalb Monate, in denen er nacheinander Versuche mit anderen Opiaten unternahm. Manchmal notierte er »relative Beschwerdefreiheit«, aber diese war nur vorübergehend.
    Auf einer Liste, die er später für die Krankenkasse anfertigte, unterteilte er die vergeblichen Therapieversuche in drei Gruppen. Gehäufte Intoleranzreaktionen – acht Medikamente. Allergische Reaktionen – eine Wirkstoffgruppe. Kein Wirkungseffekt – fünf Medikamente. Das am stärksten wirksame Medikament auf dieser Liste war das Opiat Fentanyl. Sie vertrug es einige Wochen.
    Einen Schlüsselmoment erlebte Haag, als er Ute Köhler ein Lokalanästhetikum spritzte, das auch bei Operationen, zum Beispiel bei Kaiserschnitten, angewandt wird. Für gut zwölf Stunden schaltet es zuverlässig alle sensiblen Empfindungen unterhalb der Stelle aus, an der es auf das Rückenmark einwirkt. Ute Köhler hatte zum ersten Mal keine Rückenschmerzen mehr, doch die Blasenkrämpfe und der unstillbare Harndrang blieben. Haag folgerte: Die Blasenkrämpfe spielten sich in ihrem Kopf ab – »zentral fixierter Schmerz«.
    Ute Köhlers Ehemann Wolfgang verstand nicht, worum es ging. Eines Tages stürmte er aufgebracht ins Schwesternzimmer und rief: »Warum haltet ihr meine Frau hier fest? Was soll das alles bringen?« Haag sah, dass es nicht damit getan war, ein Medikament zu finden, das sie von ihrem Leiden befreite. Chronische Schmerzsyndrome sprengen intakte Ehen, lassen Familien auseinanderbrechen, er kannte das alles.
    Zu jener Zeit beobachteten seine Krankenschwestern, dass man Ute Köhlers Beschwerden überlisten konnte. Wenn sie in Gespräche verwickelt war oder an Veranstaltungen teilnahm, schienen sie sie nicht so sehr zu quälen. In seinem ersten Entlassungsbrief, mit dem er sie in eine kurze Weihnachtspause verabschiedete, schrieb er deshalb vom »Verdacht unsererseits auf eine somatoforme Chronifizierung« – ihre Psyche spielte eine wesentliche Rolle in ihrer Wahrnehmung der Schmerzen. Sie würde auch eine Psychotherapie brauchen. Es würde schwierig werden, ihr das zu erklären, ahnte er. Es war immer schwer, Schmerzpatienten klarzumachen, dass sie »keine Macke hatten«, nur weil er sie zum Psychotherapeuten schickte. Die Krankenkassen verpflichteten Ärzte dazu, Psychotherapie war offizieller Bestandteil der »Qualitätssicherungsvereinbarung«.
    Haag sprach mit seiner Frau, die nach ihrem Medizinstudium lange Hausfrau gewesen war und jetzt eine Selbsthilfegruppe leitete. »Schau sie dir doch mal an und nimm sie mit zu eurer Weihnachtsfeier.« Es gab Dresdner Stollen und Glühwein, Patienten und Angehörige saßen bei Kerzenlicht in einer großen Runde und tauschten ihre Erfahrungen aus. Ute Köhler blieb still. Sie schien sich nicht zugehörig zu fühlen. Haags Frau bat sie um ihre Telefonnummer und rief einige Tage später an. In den kommenden Monaten trafen sie sich öfter allein, und allmählich drang die Frau des Arztes in die verschlossene Gefühlswelt von Ute Köhler vor. Sie erfuhr, dass Ute Köhler alles daransetzte, ihre nächtlichen Beschwerden vor dem Gatten geheim zu halten, um ihm nicht den Schlaf zu rauben. Sie erfuhr, dass hinter ihm eine fordernde Mutter stand, die zu Hause nur lakonisch sagte: »Sie soll heimkommen und arbeiten.« Ute Köhler erzählte ihr, dass sie nachts schon in die Küche geschlichen sei und zu einem Messer gegriffen habe, um allem ein rasches Ende zu bereiten – und es dann doch nicht gewagt hatte.
»Nach einer Stunde entwickelt

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