Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
sich ganz plötzlich ein unbeschreibliches Gefühl von Verzückung und Großartigkeit. Die Worte ›gut‹, ›supergut‹ und ›großartig‹, die diesem Gefühl am nächsten sind, kommen mir in den Kopf. Dieses unbeschreibliche Gefühl ist vollkommen subjektiv (…). Die Idee von Einheit mit der gesamten Natur und mit dem gesamten Universum nimmt Gestalt an. Es gibt keinen materiellen Körper oder Persönlichkeit (…). Da ist eine wunderbare farbige Bilderwelt; blau, purpur und altes Gold dominieren, mit besonders zarten Schatteneffekten (…). Offenbar trat langsam der Schlaf ein, und ich schlief ungestört bis zur üblichen Aufstehzeit. Keine besonderen Empfindungen beim Aufstehen. Fühle mich, wenn überhaupt, mehr als sonst erfrischt. Alle Gefühle, die oben geschildert sind, sind völlig verschwunden. Die Erinnerungen an die Erfahrungen sind jedoch sehr klar und lebendig.«
(Erfahrungsbericht eines Anonymen; aus Cannabis und Cannabinoide – Pharmakologie, Toxikologie und therapeutisches Potenzial, herausgegeben von Dr. med. Franjo Grotenhermen.)
Robert Haag hatte noch nie einen Joint geraucht, als er im Jahr 1999 auf einem Schmerzkongress in Frankfurt zum ersten Mal hörte, dass Ärzte Cannabis gegen chronische Schmerzzustände anwendeten. Die Referenten berichteten von durchschlagenden Erfolgen bei Patienten, die sie zuvor als aussichtslos eingestuft hatten. Es herrschte Aufbruchsstimmung, denn 1998 hatte die Bundesopiumstelle einen Wirkstoff aus der Hanfpflanze, Tetrahydrocannabinol (THC), für verschreibungsfähig erklärt. Ärzte durften THC erst dann im Rahmen von Heilversuchen anwenden, wenn alle anderen Therapien wirkungslos blieben.
Haag sammelte Fachliteratur und las über die Geschichte von Cannabis als Heilpflanze. Erstmals sollen chinesische Ärzte vor bald 5000 Jahren Extrakte aus Hanf angewandt haben, um ihre Patienten vor operativen Eingriffen zu betäuben. Über Indien und die arabischen Länder gelangte das alte Wissen nach Europa. Die Äbtissin Hildegard von Bingen schrieb um das Jahr 1150 in ihrer Heilmittel- und Naturlehre Physica, dass Hanf gegen Kopfweh helfe und dem Magen guttue. Aus späteren Jahrhunderten existieren Berichte über die therapeutische Anwendung bei Rheumatismus, Cholera, Wundstarrkrampf und vielen anderen Krankheiten. Im ausgehenden 19. Jahrhundert vermarkteten Pharmakonzerne wie E. Merck und Eli Lilly Medikamente auf Cannabis-Basis als Mittel gegen Schmerzzustände, Asthma, Schlafstörungen und Erregungszustände. Doch immer kämpften die Hersteller mit einem Problem: Die Haschischpräparate waren »pharmazeutisch instabil« – je nach Herkunftsland der Rohstoffe, Alter und Lagerungsbedingungen wirkten sie mal mehr, mal weniger.
Immer restriktivere Gesetze und neue Medikamente taten ihr Übriges, um Cannabis-Produkte bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ganz vom Markt zu verdrängen.
Doch die Forschung ging weiter. In den neunziger Jahren entdeckten Forscher, dass die Zellen des Nervensystems und Gehirns für Cannabis eigene Andockstellen besitzen, die eigentlich für körpereigene Nervenüberträgerstoffe gedacht sind – die Endocannabinoide. Hierüber entfaltet der Hauptwirkstoff THC seine therapeutischen Effekte, die inzwischen in vielen Studien nachgewiesen wurden. Die US-amerikanische National Academy of Sciences fasste diese Wirkungen 1999 in ihrem Report »Marijuana and Medicine: Assessing the Science Base« zusammen: Cannabis wirkt demnach gegen Schmerzen, Übelkeit und Erbrechen, steigert den Appetit, entspannt die Muskulatur und löst Spastiken, wie sie zum Beispiel bei multipler Sklerose auftreten. Es hebt die Stimmung, kann also antidepressiv wirken, es kann jedoch auch Psychosen auslösen. In therapeutischen Dosen verabreicht, wirkt Cannabis nicht suchterzeugend, das ist heute allgemein anerkannt.
Das erste in Deutschland hergestellte Cannabis-Präparat heißt Dronabinol, es enthält den Hauptwirkstoff THC in isolierter Form. Weil die Pflanze in Deutschland nicht angebaut werden darf, wird das THC dafür synthetisch hergestellt. Die Drogen Marihuana, produziert aus den Blättern der Hanfpflanze, oder Haschisch, aus ihrem Harz gewonnen, enthalten neben THC noch weitere Cannabinoide, weshalb sie in ihrer Wirkung unkontrollierbarer, möglicherweise aber auch effektiver sind.
Der erste Patient, den Robert Haag mit THC behandelt hatte, war ein passionierter Jäger, den Phantomschmerzen nach einem schweren Unfall im rechten Arm quälten. In
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