Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Vater in die Lehre, nach Feierabend hetzte er zum Supermarkt, kochte für die Familie, wusch die Wäsche, während sich seine Freunde in der Kneipe trafen. Es gab keine Familienurlaube mehr.
Der Frauenarzt schickte Ute Köhler in Kurkliniken, wo sie mit Moorbädern, Wassertreten, Yoga und Beckenbodengymnastik behandelt wurde. Es brachte nichts. Er versuchte es mit Standard-Schmerzmitteln, sie reagierte mit Allergien und Unverträglichkeiten. Krampflösende Medikamente, die die Muskulatur der Harnwege entspannen sollten, blieben wirkungslos.
Die Psychologin einer Kurklinik riet ihr dringend zur Psychotherapie. Es machte sie wütend, wusste sie doch, wie es in ihrem Unterleib aussah.
Ein hinzugezogener Urologe sah schließlich keinen anderen Ausweg mehr und verschrieb ihr ein bekanntes Opiat, das schon zu DDR-Zeiten in Verruf gekommen war, weil es mangels »richtiger« Drogen auf dem Schwarzmarkt gehandelt worden war und süchtig machte. Als Ute Köhler es zum ersten Mal nahm, wurde ihr schwarz vor Augen, Übelkeit stieg auf, sie erbrach sich, ihr Herz raste – aber zum ersten Mal erfuhr sie Linderung. Ihr Urologe sagte, sie solle die Dosis auf die Hälfte reduzieren. So ging es mal besser, mal schlechter.
Im Frühjahr 1999 aber schien es Torsten, als würde sie sich allmählich ihrem Zustand ganz ergeben. Starke Rückenschmerzen waren hinzugetreten, sie schossen plötzlich in ihren Körper und strahlten in die Beine aus. Eines Nachmittags fand er seine Mutter liegend in der Küche, der Inhalt der Einkaufstüten lag verstreut auf dem Boden – sie war auf der Treppe zusammengebrochen und auf den Knien ins Haus gekrochen.
40 Mal am Tag quälte sie sich in jenen Monaten auf die Toilette. Wenn sie nicht gerade vor Schmerzen stöhnte, war sie gleichgültig und apathisch, beschränkte jedes Gespräch auf das Nötigste. Sie aß nicht mehr, verlor 10 Kilogramm Gewicht in wenigen Monaten. Torsten litt. Der Ehemann ertrug es stoisch wie schon zuvor, sagte nur: »Sie ist krank, sie war schon immer krank.«
Am 27. Oktober 1999 fuhr Torsten sie in das Krankenhaus, in dem auch der Schmerztherapeut Robert Haag arbeitete. Ihr Frauenarzt hatte sie überredet: »Dort können Ärzte verschiedener Fachrichtungen gemeinsam nach neuen Lösungen suchen.« Später gestand ihr Torsten: »Mutti, ich habe geglaubt, du wirst nicht zurückkommen.«
Im Körper-Staat, der von einem totalitären Schmerzapparat regiert wird, ist es egal, ob die Ursache des Schmerzes noch existiert oder nicht. Das Ziel der Offiziere des Schmerzapparats im Zwischenhirn ist absolute Kontrolle. Sie verhalten sich wie die Polizisten in einem Land, das von einem schweren Terroranschlag traumatisiert wurde, die jetzt jeden Passanten filzen, der zu lange vor einem Gebäude stehen bleibt – aus der Angst heraus, er könnte eine Bombe am Körper tragen. In einem so traumatisierten Körper entladen sich Nervenendigungen und -zellen bei geringsten Reizen oder sogar spontan. Sie arbeiten anders als das für Berührungsreize zuständige Nervensystem, das sich nach kurzer Zeit an den neuen Stimulus gewöhnt – sonst würden Menschen den ganzen Tag auf unangenehme Weise spüren, dass die Kleidung an ihrer Haut reibt.
Die auf Schmerz spezialisierten Nervenbahnen gewöhnen sich nicht. Je länger er besteht, desto mehr Impulse feuern sie ab, während sich die Offiziere im Zwischenhirn daranmachen, das Großhirn in ihrem Sinne umzubauen. Ganze Verbände von Gehirnzellen erhalten den Befehl, sich künftig der Wahrnehmung des Schmerzes zu widmen, der betroffene Mensch lauscht in seinen Körper in panischer Angst vor der nächsten Attacke. Erwartungsangst und Schmerz, beim chronischen Schmerzpatienten bilden sie ein unzertrennliches Paar, in einem Teufelskreis verstärken sie sich wechselseitig. Ein »Schmerzgedächtnis« ist entstanden. All dies spielt sich nicht auf einer rein psychologischen Ebene ab, es handelt sich um Veränderungen der Anatomie und Physiologie, nachweisbar in bildgebenden Verfahren.
Wer ein chronisches Schmerzsyndrom entwickelt und wer nicht, darüber entscheiden viele Faktoren, die noch wenig verstanden sind: eine genetisch vorgegebene individuelle Schmerzschwelle, die Einstellung der jeweiligen Kultur zum Thema Schmerz oder das Geschlecht. Wer aus einer niedrigeren sozioökonomischen Schicht stammt oder mit vielen Geschwistern aufwächst, erträgt Schmerzen besser. Ebenso gefeit sind Menschen, deren nahestehende Verwandte unter chronischen
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