Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
den Tagen nach der ersten Einnahme lachte er viel, und als Haag ihn fragte, ob die Schmerzen besser geworden seien, sagte er: »Immer noch genauso, aber ich sehe das alles jetzt anders!«
Haag war beeindruckt. Es kam doch darauf an, dass die Patienten besser mit ihren Schmerzen klarkamen – absolute Schmerzfreiheit war oft ein unerreichbares Ziel.
Am 25. Januar 2000, zweieinhalb Monate nachdem der Arzt Ute Köhler aufgenommen hatte, verabreichte Haag ihr die erste Dosis THC. Er erhoffte sich nicht nur, dass es gegen die Schmerzen wirken, sondern auch ihren Appetit anregen würde; sie nahm seit vielen Tagen keinen Bissen mehr zu sich und hatte weiter an Gewicht verloren. Sie bekam zunächst 2,5 Milligramm in Tropfenform. Nichts geschah. Innerhalb von vier Tagen erhöhte er auf zehn Milligramm.
Bei der Visite am Morgen des fünften Tages erkannte er Ute Köhler kaum wieder. Sie saß am Bettrand, gekämmte Haare, Seifengeruch. Sie erzählte, eine Stunde nach der Einnahme habe sie plötzlich lachen müssen. Die Fröhlichkeit sei aus ihr herausgebrochen, als habe jemand einen Schalter umgelegt. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit habe sie durchgeschlafen. Haag glaubte nicht, was er hörte. Noch nie hatte er eine derart durchschlagende Wirkung beobachtet. Doch er traute dem Frieden nicht. Immer noch stand Ute Köhler zusätzlich unter der Wirkung des hochpotenten Opiats Fentanyl, das über ein Pflaster in ihren Körper abgegeben wurde. Eine Woche später wagte er, es wegzulassen, »wegen starker Müdigkeit bei sonstigem Wohlbefinden«, wie er im Protokoll gewissenhaft notierte.
Als er sie zwei Wochen später entließ, war sie so gut wie schmerzfrei, aß mit Appetit und kam wieder zu Kräften. In den folgenden eineinhalb Jahren erlebte sie zwar noch mehrere Rückfälle, ließ sich von Haag erneut Katheter zum Rückenmark legen und starke Schmerzmittel verabreichen, aber die stationären Aufenthalte dauerten nur noch wenige Tage, dann war der Teufelskreis des Schmerzes wieder durchbrochen. Nach und nach verlor sie ihr »Schmerzgedächtnis«, und Jahre später erinnerte sie sich kaum mehr an diese Rückfälle.
Zwischen den Krankenhausaufenthalten sah Haag sie einmal im Monat, wenn sie ihr neues Rezept für THC abholte. Er wurde Zeuge ihrer beeindruckenden Verwandlung. Aus der das Leid ertragenden »grauen Maus«, wie er sie gerne nannte, wurde eine kämpferische Frau voller Energie, und als Symbol dieser Veränderung ließ sie ihre Haare zu einer prächtigen blonden Mähne wachsen.
Doch sosehr er ihre Wandlung guthieß, sah er doch voraus, dass sie im Begriff war, über das Ziel hinauszuschießen. Nur ahnte er damals noch nicht, wie hart es ihn selbst treffen würde. Ute Köhler hielt sich nicht an die Spielregeln, die die verschiedenen Fachgesellschaften für Schmerztherapie und die Krankenkassen vorgegeben hatten. So zum Beispiel war es besser akzeptiert, wenn Patienten neben dem umstrittenen Cannabis ein zweites Medikament einnahmen – möglichst ein anerkanntes Schmerzmittel aus dem WHO-Stufenschema. Der Ultima-Ratio-Charakter der Therapie wäre so für jeden leicht erkennbar. Cannabis allein aber, das roch für die argwöhnischen Zweifler, die nicht an die schmerzstillende Wirkung glaubten, nach der Befriedigung von Rauschgelüsten. Haag hatte ein Opiat gefunden, das Ute Köhler vertrug. Doch eines Tages glaubte sie, abhängig davon zu sein. Als sie wieder zu dem Opiat-Zäpfchen greifen wollte, nahm sie stattdessen THC, denn sie hatte gelesen, dass Cannabis gegen Medikamentenabhängigkeiten wirke. Sie spürte, wie das Verlangen wich – und drückte kurz entschlossen die drei letzten Zäpfchen aus dem Blister und zertrat sie auf dem Boden. Das nächste Mal bei Haag erklärte sie, sie brauche kein Opiat mehr. Zureden half nichts. Haags Frau empfahl Ute Köhler freundschaftlich, sie solle es sich doch wenigstens verschreiben lassen, niemand kontrolliere, ob sie es tatsächlich nehme – sie wollte nicht.
Ebenso verweigerte sie sich der Psychotherapie, obwohl ihr Fachärzte und Psychologen dringende Behandlungsbedürftigkeit attestiert hatten und sie Haag in die Hand versprochen hatte, eine Therapie zu beginnen.
So nahmen die Dinge ihren ungünstigen Lauf.
7786,48 D-Mark Schadensersatz. Haag musste lachen, als er diese Forderung der großen gesetzlichen Krankenkasse im September 2001 zugestellt bekam. Er nahm den Brief nicht ernst, es musste sich um einen Irrtum handeln! Doch es war erst der Anfang –
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