Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Schmerzen litten. Auch frühe eigene Erfahrungen mit Schmerz wirken sich günstig auf die Toleranz aus. Ein Mensch kann wegen schwerer Rückenschmerzen bettlägrig werden, ohne dass die Ärzte einen Bandscheibenvorfall als Erklärung dafür finden. Bei anderen quetschen schwere Bandscheibenvorfälle das Rückenmark ein, ohne dass sie je Beschwerden haben.
Nach und nach bemächtigt sich der Schmerz des ganzen Seins eines Menschen. Die Betroffenen leiden um ein Vielfaches öfter an Depressionen. Ähnlich wie bei Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung, die Vergewaltigungen, Morde oder Kriege durchlebt haben, schaltet der Körper in einen dauerhaften Alarmmodus, ihre Nebennieren überschütten das Blut unablässig mit Stresshormonen. Folgen: Schlaflosigkeit, chronische Müdigkeit, das Gefühl der seelischen Stumpfheit, Gleichgültigkeit, Rückzug von den Mitmenschen – unspezifische Symptome, die die engsten Angehörigen oft nur schwer ertragen können, vor allem dann nicht, wenn ihnen kein äußerlich sichtbares Leiden zugrunde liegt. Sie können sich nicht vorstellen, wie es sich in einem Körper lebt, in dem ein Polizeiapparat die Diktatur des Schmerzes ausgerufen hat. Stell dich nicht so an, geh mal zum Psychiater, das kann doch nicht so schlimm sein – das sind übliche Reaktionen.
Fünf Tage nach Ute Köhlers Einlieferung rief der Gynäkologe der Klinik Robert Haag an und erbat ein Konsil. Haag betrat das Mehrbettzimmer auf Station S 2, wo sie alleine lag, die Decke über den Kopf gezogen, nur ein Büschel mausgraues Haar ragte hervor. Ein Katheter führte durch ein Loch oberhalb ihres Nabels in ihre Blase, um diese zu entlasten.
Der Gynäkologe stand am Fußende und erklärte, er wisse keinen Weg mehr, ihr zu helfen. Sie hätten überlegt, die Nerven zu kappen, die die Blase versorgten, um den quälenden Krämpfen ein Ende zu machen. Doch sie wagten den Eingriff nicht wegen der schweren Verwachsungen. Aus dem gleichen Grund habe der Urologe zuvor schon abgelehnt, die Blase ganz zu entfernen. »Das OP-Risiko ist einfach zu hoch«, schloss der Frauenarzt. »Danke, dass Sie die Patientin übernehmen.«
Haag zog die Decke beiseite. Ute Köhlers Gesicht war bleich und eingefallen. »Und Sie waren noch nie bei einem Schmerztherapeuten, die ganzen 14 Jahre nicht?«, fragte er.
Sie sah einen kleinen Mann mit rundem Gesicht, graumelierten Stoppelhaaren und Bauchansatz, er sprach leutseliges Thüringisch. Sie verneinte. »Wir werden etwas finden, was Ihnen hilft, verlassen Sie sich darauf«, erklärte Haag und zwinkerte ihr freundlich zu. Er war optimistisch. Oft hatte er solche Patienten; in Deutschland brauchen Schmerzgeplagte durchschnittlich zwölf Jahre, bis sie kompetente Hilfe finden. Die meisten erfahren beim Schmerztherapeuten zum ersten Mal Linderung.
Was willst du dir denn noch aus dem Hut zaubern?, dachte Ute Köhler und sagte nichts.
Bis heute ist die Schmerztherapie ein Stiefkind der Medizin. In den fünfziger Jahren noch negierten führende Wissenschaftler jeglichen psychischen Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung. Erst seit 1996 erkennen die Krankenkassen das Chronische Schmerzsyndrom als eigenständiges Krankheitsbild an und haben sich dazu verpflichtet, Therapien künftig auch zu bezahlen. Nach der Definition liegt ein Chronisches Schmerzsyndrom vor, wenn die Schmerzen länger als ein halbes Jahr bestehen.
Die wirksamsten Medikamente, die Opiate, haben einen gewichtigen Nachteil: Sie stehen im Verruf, als Rauschgifte missbraucht zu werden und schwere Abhängigkeiten zu erzeugen. Schon in den zwanziger Jahren haftete ihnen ein Nimbus der Dekadenz, des Außenseitertums und der Todesnähe an. Berühmte Morphinisten wie der Schriftsteller Klaus Mann oder die Tänzerin Anita Berber starben einen frühen Tod. Vor allem die Ärzte selbst verfielen damals der Opiumsucht, hatten sie doch die Verschreibungshoheit, und gesetzliche Einschränkungen gab es nicht. Am 1. Januar 1930 schließlich trat das Opiumgesetz in Kraft, mit dem die Verschreibungsdauer von Betäubungsmitteln auf das absolut notwendige Maß beschränkt wurde.
Heute ist in Deutschland die staatliche Bundesopiumstelle dafür zuständig, den Verkehr mit illegalen Drogen und starken Schmerzmitteln zu überwachen und zu steuern. Der Name der Behörde wirkt altertümlich und führt in die Irre, weil sie natürlich ebenso für alle anderen Betäubungsmittel zuständig ist, zum Beispiel für Cannabis.
Ein Arzt, der
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