Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Betäubungsmittel verschreiben will, muss die Rezeptformulare direkt von der Bundesopiumstelle anfordern, beim Ausfüllen komplexe Vorschriften beachten, die Indikation stichhaltig begründen und die Rezepte lange aufbewahren. Im Falle einer missbräuchlichen Verschreibungspraxis drohen ihm harte Gerichtsverfahren.
All diese Gründe tragen dazu bei, dass Deutschland unter den hochindustrialisierten Ländern immer noch zu den Schlusslichtern beim medizinischen Verbrauch starker Schmerzmittel gehört.
Im Jahr 1986 beauftragte die Weltgesundheitsorganisation führende Schmerzspezialisten aus aller Welt mit der Erstellung von Leitlinien für die Schmerztherapie von Krebspatienten. Die Experten erfanden das griffige Wort »pain ladder« – zu Deutsch »Schmerz-Leiter«. Diese später als WHO-Stufenschema der Schmerztherapie bekannt gewordene Leitlinie wurde in 22 Sprachen übersetzt und gilt als Meilenstein in der Schmerztherapie, es war der Siegeszug für die tabubelasteten Opiate. Bald erkannten die Ärzte, dass ihre Bedeutung weit über die Behandlung von Tumorpatienten hinausreichte.
Das WHO-Stufenschema ordnet die Schmerzmittel je nach Stärke drei Gruppen zu und empfiehlt, zuerst die schwächsten aus Stufe I anzuwenden – Medikamente wie Paracetamol oder Acetylsalicylsäure, die größtenteils frei verkäuflich sind. Führt die Therapie damit nicht zum Erfolg, sollen sie mit schwachen Opiaten der Stufe II kombiniert werden. Reicht auch das nicht, folgen die starken Opiate der Stufe III. Opiate wirken direkt auf die Zellen des Gehirns. Sie docken dort an eigenen Andockstellen an, auf die sie passen wie Schlüssel in Schlösser, und vermögen im besten Falle, nach längerem Einwirken, die Schmerz-Offiziere im Zwischenhirn zu entmachten und der Schmerzdiktatur ein Ende zu bereiten. Sie löschen das »Schmerzgedächtnis«.
Als Messlatte der Schmerztherapie gilt heute der im Jahre 1804 von einem deutschen Apotheker isolierte Wirkstoff des Schlafmohns, das Morphin. Alle anderen opiathaltigen Schmerzmittel werden im Verhältnis dazu in ihrer »analgetischen Potenz« (schmerzstillende Potenz) bewertet. Morphin hat nach internationaler Übereinkunft den Wert 1. Codein beispielsweise, weniger bekannt als Schmerzmittel denn als Bestandteil von Hustensäften, hat den Wert 0,1, verfügt also über ein Zehntel der Wirksamkeit von Morphin. Das stärkste Schmerzmittel mit großer Verbreitung heißt Fentanyl, seine schmerzstillende Potenz beträgt das 120-Fache des Morphins. Anästhesisten wenden es bei Operationen an – der Patient bleibt wach, spürt aber nichts. Heute gibt es Fentanyl-Pflaster, die den Wirkstoff kontinuierlich über die Haut ins Blut abgeben und drei Tage lang wirken.
Robert Haag ordnete Ute Köhler dem WHO-Stufenschema III zu, nachdem er sich über ihre Krankengeschichte kundig gemacht hatte. Wegen einer chronischen Leberentzündung waren einige Standardmedikamente von vornherein kontraindiziert, auf andere hatte sie mit Allergien reagiert. Sie nahm seit vielen Monaten ein Opiat Stufe II, und er hatte den Eindruck, dass sie davon schon abhängig geworden war, obwohl sich der Therapieerfolg in Grenzen hielt und sie immer noch unter Nebenwirkungen litt.
Haag entschied sich für einen radikalen Weg, um den Teufelskreis des Schmerzes zunächst wenigstens für einige Stunden zu durchbrechen. Er hatte zwei Ziele: Erstens wollte er Ute Köhler zeigen, dass weitgehende Schmerzfreiheit auch für sie ein erreichbares Ziel war, denn daran glaubte sie nicht mehr. Zweitens wollte er erkennen, welcher Anteil des Schmerzes seine Ursachen wirklich noch in den Organen hatte und welcher Anteil sich nur in ihrem Kopf abspielte. Die Rückenschmerzen, die Unterleibsschmerzen, die krampfartigen Blasenentleerungen – alles konnte zusammenhängen.
Er legte ihr einen Katheter bis nahe ans Rückenmark, um die übererregten Schmerzbahnen direkt zu betäuben. Er schloss eine Infusionspumpe an und füllte sie mit Morphin. Dann wendete er das Grundprinzip jeder Schmerztherapie an: die Titration. Er erklärte es ihr mit der Flussmetapher:
»Ein Mensch wandert durch die Wüste, es ist brütend heiß, er droht zu verdursten – das Gleichnis für den Schmerz. Er gelangt an einen Fluss. Das kühle Wasser – Gleichnis für die Medikamente – verspricht Linderung Doch es ist zu gefährlich, den Fluss zu überqueren, in der Mitte würde der Mensch vom Wasser fortgerissen – die Nebenwirkungen der Medikamente, die
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