Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
die Kasse hatte erst eines von vielen Quartalen überprüft. Unerbittlich würde sie ab jetzt eine Forderung nach der anderen schicken.
Als Begründung las er: »Kein indikationsgerechter Einsatz.« Haag sprach mit Fachkollegen, mit der kassenärztlichen Vereinigung, mit einem verständnisvoll wirkenden Mitarbeiter der Krankenkasse. Angeblich versicherten ihm alle, er habe den Heilversuch ausreichend gut dokumentiert, er müsse sich keine Sorgen machen, alles werde sich regeln lassen. Er hoffte, sich mit der Kasse einigen zu können. Doch er verstand auch, dass er einen großen Fehler gemacht hatte: Er hätte sich nicht auf die »Verschreibungsfähigkeit« von THC verlassen dürfen. Denn diese stellte nur sicher, dass er keine Strafe fürchten musste, wenn er es rezeptierte. Doch es gab noch keine Krankheit, für die THC offiziell »indiziert« war, keine Kasse war verpflichtet, dafür finanziell aufzukommen. Haag hätte also für jeden seiner Patienten Einzelabsprachen treffen müssen. Ute Köhler war nicht die Einzige, mittlerweile hatte er mehr als 40 Patienten mit THC behandelt. Sein folgenschwerer Irrtum könnte ihn in den Ruin treiben.
Ute Köhler war schockiert, als er mit ihr telefonierte. »Ich habe noch Vorräte, mit denen ich Sie eine Weile versorgen kann«, beschwichtigte er sie. »Aber dann müssen wir uns was Neues überlegen. Können Sie es selbst bezahlen?« 700 Euro im Monat? »Unmöglich! Dazu reicht unser Geld nicht«, sagte sie.
Nach und nach durchforstete die Krankenkasse weitere Abrechnungsquartale, entdeckte andere Patienten. 45000 Euro kamen am Ende zusammen, inklusive Anwaltskosten, errechnete Haag später. Die Forderungen gingen an ihn persönlich, er musste mit seinem Privatvermögen haften. Ute Köhler und seine anderen Patienten waren durch den Gesetzgeber vor Schadensersatzforderungen geschützt. Sie konnten ja nicht wissen, dass die Therapie nicht erstattungsfähig war. Er, Haag, hätte es wissen müssen.
Der freundliche Krankenkassen-Mitarbeiter war bald nicht mehr erreichbar, angeblich nicht mehr zuständig, und Haag sah das Unglück näher kommen. Er hatte damals noch drei Jahre bis zum Ruhestand und den Kredit für sein Haus abzubezahlen, das er erst nach der Wende gekauft hatte. »Es kann nicht sein, dass wir dafür bestraft werden, Menschen geholfen zu haben«, sagte er zu seiner Frau, die es auch nicht glauben konnte. Er nahm sich einen Anwalt für Medizinrecht und legte Widerspruch ein.
Als er vor den Prüfungs- und Beschwerdeausschuss der Ärzte und Krankenkassen Thüringen zitiert wurde, fühlte er sich wie vor einem Tribunal. Die Gegenseite brachte Rechtsanwälte mit, und manchmal wurde es sehr persönlich: »Was sind Sie eigentlich für ein Arzt?«, hatte ihn eine Frau angeblafft, erinnert er sich später. »Das ist unverantwortlich. Welche Nebenwirkungen Ihre Therapie hat, können doch erst kommende Generationen beurteilen.« Es waren die geballten Vorurteile gegenüber einer Therapie mit einem Mittel, in dem diese Menschen nichts anderes sahen als ein Rauschgift.
Im Jahr 2004 zog Haag vor Gericht. Ärzte und Fachgutachter schrieben seitenlange Stellungnahmen und Begründungen, aus denen der lange Krankheitsverlauf und die Therapieresistenz hervorgingen. Doch zu jener Zeit befasste sich auch das Bundesverfassungsgericht mit der Krankenkassen-Erstattungspflicht für nicht zugelassene Therapien. Geklagt hatte ein Krebspatient wegen eines anderen Medikaments. Am 6. Dezember 2005 erging das in der Öffentlichkeit so bezeichnete »Nikolaus-Urteil«, nach dem Haags Hoffnungen dahinschwanden. Zwar bekräftigte das höchste Gericht grundsätzlich das Recht der Kassenpatienten auf die Erstattung nicht zugelassener Medikamente, aber nur im Falle von tödlich verlaufenden Erkrankungen – eine solche aber lag bei Ute Köhler nicht vor. Auch andere Ärzte und Patienten, die Cannabis-Medikamente verwendeten, scheiterten in den kommenden Jahren, weil sich die Gerichte auf dieses Urteil beriefen – so wie auch fünf Jahre später das Bundessozialgericht.
Haag gab schon nach dem Nikolaus-Urteil auf. Er zog seine Anklage zurück, einigte sich mit der Kasse auf eine Rückzahlung der Schadensersatzforderungen in Raten über mehrere Jahre.
Ute Köhler resignierte nicht. Nachdem die Krankenkasse ihr ab September 2001 ihr Medikament nicht mehr bezahlen wollte, haderte sie noch ein Jahr mit sich, ob sie die Telefonnummer eines Journalisten einer Lokalzeitung wählen sollte, die
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