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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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ihr eine Freundin gegeben hatte. Wie würden die Leute im Dorf reagieren, wo der jüngere Sohn noch zur Schule ging und der Mann sein Geschäft hatte? Cannabis ist eine Droge, das war es doch, was sie alle dachten – sie selbst hatte das früher auch gedacht. Dann aber griff sie zum Hörer.
    Als der erste Artikel »Strafe trotz Hilfe« erschienen war, traute sie sich erst am nächsten Tag auf die Straße. Ein paar Häuser die Straße runter putzte eine Nachbarin die Fenster. Als sich ihre Blicke trafen, strahlte die Frau: »Gratuliere zu Ihrem Mut! Machen Sie weiter so, ich wünsche Ihnen Glück!« In den kommenden Jahren fand sie ihre neue Rolle als »Jeanne d’Arc« in Sachen Cannabis, wie Haag sie gern nannte. Sie gab Interviews im Fernsehen und Radio, ihre Fallgeschichte füllte ganze Seiten in überregionalen Tageszeitungen, sie wurde zu einer Symbolfigur. Sie plante politische Aktionen, pflanzte illegal zu Hause Hanf an und zeigte sich selbst an. Sie trat vor dem Bundestag auf, ihr Fall beschäftigte die frühere SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und andere prominente Politiker. Alle ließen ihr mitteilen, dass sie großes Verständnis hätten und sich für sie einsetzen würden. Doch es blieb bei Bekundungen.
    Haag war nicht glücklich über ihren Konfrontationskurs. Ihre anklagenden Worte gegenüber der Kasse, öffentlich geäußert, hatten aus seiner Sicht jeden stillen Kompromiss früh unmöglich gemacht. Und er hatte die Rechnung zu bezahlen, für sie und die anderen Patienten. Dabei hatte er noch Glück – die anderen gesetzlichen Kassen meldeten sich nie mit Regressforderungen, und private Kassen hatten die Kosten stets übernommen, ohne viel zu fragen.

    Im Jahr 2012 hat Robert Haag seine letzten Schulden beglichen.
    Fünf Jahre nach seiner Pensionierung fährt er immer noch Notarzteinsätze, um die finanzielle Lücke zu schließen. Aus der Schmerztherapie hat er sich ganz zurückgezogen. Seine Nachfolgerin am Krankenhaus macht einen großen Bogen um Cannabis, soweit Haag weiß. Wenn ihn manchmal Patienten anrufen, die über Umwege seine Telefonnummer herausgefunden haben, verweist er sie an Schmerztherapeuten in anderen Bundesländern.
    Haag fühlt sich als Opfer eines Abrechnungssystems voller Fallstricke und Winkelzüge, die zu verstehen er schon damals zu alt war. In der DDR, so glaubt er, wäre es einfacher gewesen. Er wäre zum Parteisekretär gegangen, hätte ihm erzählt, dass er Cannabis aus dem Westen bräuchte, weil neuere Studien zeigten, dass es bei manchen Schmerzpatienten hoch wirksam sei. Der Sekretär hätte in der nächsten Sitzung seine Genossen gefragt: »Dem Doktor muss man helfen, was meint ihr?« Auf diese Weise hatten die Ärzte früher manche Therapie ermöglicht, wenn Medikamente fehlten.
    »Das demokratische System ist natürlich besser«, so Haags Fazit. »Aber die Maschen sind zu groß, durch die man als naiver Mensch fallen kann.«

    Ute Köhler kämpfte noch jahrelang, flehte in Briefen auch darum, dass Dr. Haag nicht für sie zahlen müsse. Doch ihre Krankenkasse hat bis heute nicht nachgegeben.
    Wie ihre Beschwerden dort gesehen werden, erfuhr Ute Köhler am deutlichsten aus einem Widerspruchsbescheid vom 8. März 2007. Sie empfand die Worte als Schläge ins Gesicht. Nur in »notstandsähnlichen Situationen«, bei »lebensbedrohenden, tödlich verlaufenden Erkrankungen« hätten Versicherte Anspruch auf Medikamente wie THC, urteilte der Referatsleiter der Widerspruchsstelle. Und weiter: »Selbst bei hochgradiger akuter Suizidgefahr würde dies grundsätzlich nicht dazu führen, dass Versicherte Leistungen außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung beanspruchen können, so ausdrücklich das Bundessozialgericht. (…) Gelegentlich auftretender Harndrang infolge Bestrahlung nach Zervixkarzinom stellt keine lebensbedrohliche Erkrankung dar und kann mittels der üblichen Spasmolytika behandelt werden (…).«
    Bis heute nimmt Ute Köhler THC ein und muss nichts dafür bezahlen. Sie hatte Glück: Am Rande einer Veranstaltung lernte sie den Marketingchef des Herstellers kennen, seither bekommt sie das Medikament gesponsert.
    Sie dosiert den Wirkstoff nach Bedarf, sagt sie – mal 10, mal 30 Tropfen, selten auch 50. Nach etwa einer Stunde würden die Schmerzen und Krämpfe verschwinden, sagt sie. Die rauschähnlichen Zustände der ersten Wochen erlebe sie nicht mehr, nur eine leichte Stimmungsaufhellung, die niemand außer ihr selbst

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