Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
wahrnehme. Der Körper hat sich an THC gewöhnt, verlangt jedoch nicht nach mehr, wie es bei einer Süchtigen der Fall wäre. Ihr Mann sagt, sie sei wie ausgewechselt und er habe seine früheren Vorurteile gegenüber Cannabis deshalb schon lange über Bord geworfen. Sie sei ihm wieder eine Stütze, und als sein Vater vor einigen Jahren im Sterben lag, sei sie es gewesen, die ihn aufopferungsvoll zu Hause gepflegt habe. Beim Schmerztherapeuten war Ute Köhler schon seit vielen Jahren nicht mehr.
Cannabis-Produkte spielen weiterhin eine Außenseiterrolle in der Schmerztherapie, obwohl das oft als Argument herangezogene Suchtpotenzial der vermeintlichen Droge in therapeutischen Dosen anerkanntermaßen vernachlässigbar ist. Und obwohl die Bundesärztekammer, die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft schon 2008 anlässlich einer Anhörung im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages gemeinsam erklärt haben: »Der Nutzen einer Therapie mit Cannabinoiden ist für einige medizinische Indikationen durch kontrollierte Studien dargestellt worden, in denen überwiegend standardisierte und/oder synthetische Cannabinoidpräparate verwendet wurden. Der Einsatz dieser Präparate kann demnach bei Patienten, die unter einer konventionellen Behandlung keine ausreichende Linderung von Symptomen wie Spastik, Schmerzen, Übelkeit, Erbrechen oder Appetitmangel haben, sinnvoll sein.«
Im Herbst 2012 entschied Bundespräsident Joachim Gauck nach einem Antrag der thüringischen Ministerpräsidentin, Ute Köhler mit der Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland auszuzeichnen. Sie habe sich »mutig für die Belange kranker Menschen eingesetzt«, ihr Kampf sei »als Beispiel für bürgerliche Selbstbestimmung und Verantwortung für die Gesellschaft ehrenwert«.
Ute Köhler nahm den Orden am 9. Januar 2013 in der thüringischen Staatskanzlei entgegen. Sie war stolz, sah die Auszeichnung als Beweis dafür, dass ihr Kampf immer noch nicht verloren war. Sie war aber auch verwundert, dass die Selbstlosigkeit ihres Einsatzes so in den Vordergrund gerückt wurde. In erster Linie, sagt sie, gehe es ihr darum, die Kostenerstattung für sich selbst zu erreichen. Denn immer noch fürchte sie, dass ihr Sponsor seine Entscheidung eines Tages überdenke und sie die Schmerzen wieder ertragen müsse.
Neue Füße
T horsten erinnerte sich nicht an die Zeit, als seine Füße noch so aussahen wie die anderer Kinder. Seine Mutter, eine Damenschneiderin, hatte es schon bemerkt, als er zwei Jahre alt war. Damals konnte er normal laufen, aber sie sah ihn nie rennen. Seine Unterschenkel erinnerten sie an »Storchenbeinchen«, zu wenig Muskulatur. Bald begann er, hin und her zu schaukeln, wenn er ein Bein vor das andere setzte. Auf seinen beiden Fußrücken wuchsen Knochenhöcker und unter den Sohlen bildeten sich immer größere Höhlen. Der Kinderneurologe an der Kölner Uniklinik steckte ihm Nadeln in die Unterschenkel und Knie, die über Kabel mit einem Monitor verbunden waren, und leitete kribbelnde Stromstöße hindurch. Es sei ein Nervendefekt, erklärte er ihr dann. Möglicherweise ende er im Rollstuhl, möglicherweise werde er ein normales Leben führen können – niemand könne das vorhersagen. »Machen Sie viel Krankengymnastik mit ihm, sorgen Sie dafür, dass er sich in Bewegung hält. Das ist alles, was Sie tun können.« Einen Namen für die Krankheit gab er ihr nicht mit auf den Weg. Später jonglierten die Ärzte mit verschiedenen Begriffen, mal war von einer »verschleppten Kinderlähmung« die Rede, mal von einer »Spastik unklarer Genese«.
Die Mutter versuchte, Thorsten nie spüren zu lassen, dass er behindert war. Das ging so lange gut, bis er in die Schule kam, dann begannen die Hänseleien. »Hinkebein«, riefen ihm die Klassenkameraden hinterher. Wenn sie ihn quälen wollten, versetzten sie ihm einen Stups von hinten, er kippte vornüber und landete auf dem Fußboden. Wenn sie einen Schulausflug machten, wurde er mit dem Gepäck im Auto zur Hütte gebracht. Im Schwimmbad starrten sie an ihm herunter, und er hatte kein Wort außer »Klumpfuß«, um ihnen zu erklären, was mit ihm war.
Immer stärker verformten sich seine Füße unter dem Zug der Beugemuskeln, die weniger von der Nervenschädigung betroffen waren als die Streckmuskeln. Seine Zehen bogen sich nach unten wie Klauen. Jeder Arzt, den die verzweifelte Mutter konsultierte, hatte eine
Weitere Kostenlose Bücher