Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
Vom Netzwerk:
»Ich könnte Sie in 14 Tagen operieren. Ich meine, falls Sie bereit sind, 100 Fachleute zuschauen zu lassen.« Es wäre im Rahmen eines Kongresses. Thorsten entschied sofort. Ja! Besser sofort als noch ein Jahr warten. Es wäre die letzte Chance, die er den Ärzten geben wollte.
    Die Angst kam erst in den Tagen danach. Sie raubte ihm fast den Verstand. Später erinnerte er sich kaum mehr an die letzten Tage seiner Reise. Was, wenn er noch mal so enttäuscht würde wie als Kind, als seine Füße wieder zusammengeschnurrt waren, kaum dass der Gips weg war. Was, wenn etwas schiefging, er ein Bein verlor? Es sei unwahrscheinlich, aber denkbar, dass besondere Umstände eine Amputation nötig machten, hatte Wenz erklärt. Aber auch dann wäre Thorsten beim heutigen Stand der Prothesenforschung besser dran als mit diesen Füßen, fand der Arzt. Thorsten fand das nicht. Und schlief kaum noch.
    »Hätten Sie vielleicht noch einen Tipp, womit man sich in den kommenden Tagen etwas beruhigen kann?«, mailte er an Wenz, als der Termin immer näher rückte. Der rief prompt an. »Beruhigen? Wieso? Freuen Sie sich doch! Wenn einer von uns was zur Beruhigung bräuchte, dann doch eher ich.«

    Es fühlte sich surreal an: Thorsten und Oskar saßen auf zwei Stühlen, frontal dem Publikum im Hörsaal zugekehrt, Fußchirurgen aus aller Welt, die auf Englisch Fragen stellten, die Thorsten nicht verstand. Dort oben in den Reihen saß Ewa. Auch seine Mutter war im Campingmobil angereist, sie hatte irgendwo am Neckar mit seinen beiden Söhnen übernachtet, für die Jungs war es ein Abenteuer. Emily war zu Hause geblieben, die andere Oma passte auf sie auf, sie war dafür extra aus Polen angereist.
    »Scheuen Sie sich nicht«, rief Wenz ins Publikum: »Kommen Sie ruhig nach vorne, Sie dürfen auch betasten.« Thorsten spürte die Finger der Experten an seinen Füßen, die aufgereiht vor ihm standen. Feuchte Finger, kalte Finger, fleischige, warme Finger. Was würde er in vier Stunden noch spüren, wenn er aus der Narkose erwachte?
    Dann kam der Anruf aus dem OP. Die Anästhesisten drängten. Vom Hörsaal mit dem Fahrstuhl hoch ins Zimmer, OP-Hemd an, eine halbe Stunde später sah Thorsten, wie die milchige Flüssigkeit in seinen Unterarm floss. Alles erinnerte ihn an die missglückte Operation, als er acht Jahre alt war, an die Enttäuschung danach. Dann senkten sich die Nebelschleier über seinen Geist.

    Wolfram Wenz war es gewohnt, dass ihm Fachleute zusahen, wenn er operierte. Immer waren lernwillige Ärzte aus anderen Ländern in der Klinik. Diesmal waren viele Kapazitäten darunter, sie saßen drüben im Hörsaal, er stand im Operationssaal, die Kamera war auf seine Hände gerichtet, alle durften Fragen stellen. Live-Schalte aus dem OP. Doch er hatte schon einige so schwere Fälle operiert, einen sogar, dessen Füße so verkrümmt waren, dass er zuletzt auf den Fußrücken gelaufen war. Es war anspruchsvoll, aber er kannte jeden einzelnen Handgriff, wovor also sollte er sich fürchten?
    Heute würde Wenz nur den linken Fuß operieren – falls irgendwas schiefging oder Thorstens Wundheilung versagte, wäre er schneller wieder auf den Beinen, könnte auf Krücken gehen.
    Seine Hände waren ruhig, er kam schnell voran. Drei Hautschnitte, einer vom Innenknöchel bis zum Großzehgrundgelenk, einer am Fußaußenrand, einer am Schienbein. Freilegen von Muskeln, Sehnen und Knochen. Es blutete nicht, die großen Adern waren abgebunden, die Blutzufuhr gestoppt – zwei Stunden, maximal zweieinhalb hielt das Gewebe dem Sauerstoffmangel stand.
    Von den ständigen Zwischenfragen ließ er sich nicht beirren. Zunächst musste er Sehnen verlängern, allen voran die Achillessehne – durch die Spitzfußstellung waren sie extrem verkürzt, ein Grund dafür, dass Thorsten seinen Fuß nicht heben konnte. Ein Längsschnitt pro Sehne, Spaltung, dann die jetzt dünneren Enden neu zusammenfügen. Gelenkknorpel abmeißeln, Knochenflächen freilegen – drei Gelenke im Bereich des unteren Sprunggelenks würde er versteifen müssen, damit der Fuß später stabil stehen könnte. Aber Thorsten würde ihn danach nicht mehr seitlich drehen können, das war sein Opfer.
    Erster Versuch, den Fuß in eine gerade Position zu richten. Wenz umfasste ihn, presste mit aller Kraft nach oben. Leises Knacksen – etwas blockierte. Wenz musste herausfinden, was, und rasch eine Lösung finden – vor laufender Kamera. Sein Herz klopfte rascher – improvisieren,

Weitere Kostenlose Bücher