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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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nur ein Paar pro Jahr zugestand. Jedes neue Paar Schuhe wurde höher und klobiger. Täglich schluckte er Tabletten gegen die Arthroseschmerzen, ohne Erfolg. Er bewältigte gerade noch 500 Meter Gehstrecke – Parkhaus, Supermarkt, zurück zum Auto und nach Hause, das war sein Radius.
    Die Krankengymnastin, zu der er mit Oskar und Emily ging, erzählte ihm von einem Fernsehbericht über eine Operation. Thorsten war äußerst skeptisch, nirgendwo im Internet hatte er Informationen darüber gefunden. Erst ein Jahr zuvor war er wegen seiner Kinder zu einem Beratungsgespräch in einer orthopädischen Fachklinik gewesen. Der Oberarzt hatte die gleichen Ratschläge, die sich seine Mutter vor mehr als 30 Jahren angehört hatte: Krankengymnastik, Schwimmen, orthopädische Schuhe.
    Ewa musste lange auf ihn einreden. »Tu es für Oskar und Emily.«

    Die Uniklinik für Orthopädie Heidelberg thront auf einer Hügelkuppe außerhalb der Stadt. Von vielen Krankenzimmern aus eröffnet sich ein weiter Blick auf den Neckar, Ausflugsschiffe tuckern vorbei, gegenüber steigen die Weinberge an.
    Sie ist die größte orthopädische Klinik Deutschlands und verdankt ihre Existenz dem Ersten Weltkrieg. Damals strömten Schwerstverwundete von der nahen lothringischen Front in die Lazarette Heidelbergs und dann ins »Badische Landeskrüppelheim«, die Vorläufereinrichtung. Unter dem Ansturm kollabierte die Anstalt, und der Oberbürgermeister Heidelbergs setzte den Bau eines großen orthopädischen Fachkrankenhauses durch, das vier Jahre nach Kriegsende eingeweiht wurde. Dank der exponierten Lage konnte es, anders als Abteilungen in Unikliniken, unbegrenzt wachsen, und immer wieder spiegelt sich in seiner Baugeschichte die Medizingeschichte Deutschlands. In den fünfziger Jahren grassierte die Kinderlähmung, in Heidelberg entstand eine der ersten Spezialabteilungen. In den späten Sechzigern folgte ein Modellzentrum für Contergan-Geschädigte. Immer, wenn der Platz nicht mehr ausreichte, wurde angebaut: Querschnittgelähmtenzentrum, Forschungshaus, ein eigenes Sporttherapiezentrum und vieles mehr.
    An einem Freitag im August 2009 saß Thorsten mit seinem Sohn Oskar, damals acht Jahre alt, im großen Warteraum der Ambulanz. Beim Anblick seiner Mitpatienten dachte er, dass er und seine beiden betroffenen Kinder es noch recht gut hatten. Querschnittgelähmte und beidseits Beinamputierte in Rollstühlen, Kinder mit verkrümmten Körpern und verrenkten Gliedmaßen, die mit offenem Mund ins Leere starrten.
    Als er nach zwei Stunden in einem engen Untersuchungszimmer dem Fußchirurgen Wolfram Wenz gegenüberstand, hatte er schon in den ersten Sekunden ein besonderes Gefühl. Der Arzt kam direkt auf ihn zu, reichte ihm die Hand, blickte ihm fest in die Augen – ein Mensch trat ihm gegenüber, kein Arzt. Er war im gleichen Alter, groß und gutaussehend, dichtes braunes Haar, Dreitagebart, Schal, kein Kittel.
    »Warum Sie hier sind, sehe ich«, begann Wenz. »Aber erzählen Sie erst mal, ich will alles wissen.« Und Thorsten erzählte zum ersten Mal einem Arzt seine ganze Geschichte. Wenz schien unendlich viel Zeit zu haben. Als Thorsten geendet hatte, legte ihm der Arzt die Hand auf die Schulter: »Ihre Suche ist zu Ende. Bei mir sind Sie richtig. Kommen Sie mit in mein Büro, ich will Ihnen was zeigen.«
    Im Regal neben Wenz’ Schreibtisch standen Schuhe, unförmig und plump wie die von Thorsten. Sie standen dort wie Trophäen. »Meine Patienten haben sie mir geschenkt, als sie sie nicht mehr brauchten«, sagte Wenz. Und dann zeigte er Thorsten die Fotos der Füße eines dieser Patienten. Als wären es meine, dachte Thorsten. Es folgten Fotos der Operation, abgespreizte Hautlappen, freiliegende Sehnen, rotes Fleisch. »Vielleicht sollte mein Sohn draußen warten«, versuchte es Thorsten, doch Wenz sagte: »Nein, nein, der soll ruhig sehen, was ihm bevorsteht.« Oskar starrte fasziniert auf den Bildschirm. Dann die Füße ein Jahr nach der OP. Der unbekannte Patient konnte barfuß auf ihnen stehen – und laufen.
    Falls er sich dafür entscheide, müssten sie noch ein Jahr durchhalten, sagte Wenz zum Abschied nach zwei Stunden. So lange sei die Wartezeit. »Ich habe mich, glaube ich, schon entschieden«, sagte Thorsten.
    Wenz nickte. »Noch eines: Ich bin nur für Ihre Füße verantwortlich. Nicht für das, was danach in Ihrem Leben passiert.« Viel später, an einem entscheidenden Punkt in seinem Leben, sollte Thorsten dieser Satz wieder in

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