Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Manchmal gehen sie abends aus. Manchmal träumen sie gemeinsam davon, wieder eine längere Auszeit zu nehmen, ein halbes Jahr in den Süden zu fahren. Im Traum sieht Thorsten sie schon dort, Hand in Hand, einen endlosen Strand entlanggehen – barfuß.
Fallsucht
Ä rzte klammern sich an Namen. Sie geben ihnen Sicherheit. »Schizophrenie«, »Angststörung« und »Epilepsie« sind solche Namen – Krankheiten, die mit dem Fall Lydia Schneider zu tun haben. Sie sind wenig verstanden, ja existieren gar nicht in ihrer Ganzheit, sondern zerfallen in Unterformen, die sehr unterschiedlich verlaufen. Die Diagnosen werden gestellt, wenn bestimmte Symptome in Kombination miteinander auftreten, doch anders als zum Beispiel bei einer Grippe können verschiedene Ursachen diese Symptome hervorrufen. Die Therapien helfen mal und mal nicht. Sie sind meist gegen die Symptome gerichtet und bekämpfen nicht die Ursache.
Wehe aber dem Patienten, für dessen Krankheit es keinen Namen gibt. So begann vor acht Jahren die Leidensgeschichte der Lydia Schneider. Unzählige Ärzte versuchten sich an ihr und scheiterten. Für einen von ihnen, der mit seiner Diagnose zunächst sehr weit danebenlag, öffnete sich nach der zweiten Begegnung mit Lydia Schneider der Blick auf eine neue Galaxie im Universum der rätselhaften Krankheiten des Geistes.
Niemand weiß, wie es an jenem Freitagmorgen, am 15. Juni 2005, in Lydia Schneider aussah, als sich der Nebel der Umnachtung über sie senkte. Sie selbst erklärte es niemandem mehr, später war ihre Erinnerung an das Jahr, das folgte, ausgelöscht. Vielleicht erwachte sie im Morgenmantel auf dem Fußboden in der Küche ihrer Altbauwohnung, mit trockenem Mund und schmerzenden Muskeln, so als hätte sie Schwerstarbeit geleistet. Die Uhr zeigte halb zwölf, der Tee in der Kanne auf dem Tisch war schon lau. Wie lange hatte sie hier gelegen?
Dass es so gewesen sein könnte, dafür spricht der weitere Verlauf. Sicher ist, dass sie ihren jüngeren Bruder anrief, der sich später an ihre Worte erinnerte: »Robin, mir geht’s nicht gut. Ich will nicht allein hier in der Wohnung bleiben. Kannst du mich abholen und zu Mama bringen?«
Robin kam sofort. Sie saß auf dem Sofa, apathisch, er stützte sie beim Aufstehen. »Ich kann allein die Treppe runter«, sagte sie. Es waren vier Stockwerke, das Auto stand vor der Tür, er ging vorneweg. Sie waren im zweiten Stock angelangt, als er fragte, ob sie abends Dienst an der Bowlingbahn habe. Sie gab keine Antwort. Als er sich umdrehte, klammerte sie sich ans Treppengeländer, starrte an ihm vorbei. Er spurtete die Stufen hinauf. »Hey, was ist?« Er glaubte, sie würde in Tränen ausbrechen, streichelte ihre Wange, ergriff ihre Hand. Da spürte er das Zittern, das immer stärker wurde, bis sie am ganzen Körper bebte. Nach einer halben Minute hörte es auf. »Was war das denn eben?« Sie wusste nicht, was er meinte.
»Wie dünn du geworden bist!«, rief die Mutter aus und lief Lydia entgegen. »Komm rein, ich koch uns was. Was ist denn los?«
»Nichts, schon wieder gut«, sagte Lydia leise. Sie wirkte verstört und ängstlich, manchmal huschte ihr Blick unvermittelt zur Decke. Bald legte sie sich ins Bett.
Am nächsten Tag: Psychiatrie, Notaufnahme. Der Wartesaal war überfüllt. Alkoholisierte pöbelten das Pflegepersonal an, Alte dämmerten teilnahmslos in Betten auf dem Gang vor sich hin, die Polizei zerrte einen Mann in Handschellen durch die Tür, der mit den Füßen um sich trat. Nach vier Stunden Warten rief eine Krankenschwester die Mutter ins Untersuchungszimmer, wo Lydia auf einem Stuhl saß und teilnahmslos vor sich hin starrte.
Die Mutter war aufgebracht: »Warum hat man uns hierhergeschickt? Meine Tochter hat was Körperliches, sie braucht ordentliche Diagnostik!«
Die Ärztin musterte sie kurz.
»Vielleicht wissen Sie ja nicht alles über Ihre Tochter. Mir jedenfalls hat sie von Panikattacken erzählt und davon, dass sie seit Wochen nicht schlafen kann und keinen Appetit mehr hat.«
Während sie sprach, notierte sie schon die Diagnose im Aufnahmebuch: »Angststörung.«
Lydia könne wieder nach Hause, solle sich in den kommenden Tagen ambulant bei einem Nervenarzt vorstellen. Hier sei leider kein Bett frei. »Wir haben ihr ein Beruhigungsmittel gegeben, das soll sie erst mal weiter nehmen«, sagte sie, drückte Lydia ein Rezept in die Hand und war schon aus der Tür.
Auf dem Heimweg sprachen sie kaum ein Wort, die Mutter dachte nach.
Weitere Kostenlose Bücher