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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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normalen Trekkingschuhe. Der vom Wind aufgewehte Sand pikste wie tausend Stecknadeln. Thorsten lief in Richtung der Gischt, zitterte vor Erregung. Bevor er das Wasser erreichte, wandte er sich um: Fußspuren! Seine!
    Dann kam die Welle, eiskalt umspülte sie seine Füße. Er watete tiefer hinein, das Wasser schlug über seine Knie, der Atem stockte ihm vor Kälte, es war ihm egal. Er konnte sein Glück kaum fassen, sein Urschrei ging im Rauschen unter, Tränen schossen in seine Augen.

    Die eineinhalb Jahre nach seinem Nordsee-Erlebnis waren die schwersten für Ewa. Die Operationen nahmen kein Ende, erst Emily, dann Oskar. Dazwischen die Gipswechsel und Kontrollen, immer wieder die langen Fahrten nach Heidelberg. Währenddessen wollte ihr Mann mit Anfang 40 seine Jugend nachholen. Technopartys, Gothic-Festivals, abends noch ein Bier in der nahen Stadt, Freunde treffen, durch die Bars ziehen. Sosehr sie versuchte, es zu verstehen – sie hatten drei Kinder, sie waren in einer anderen Lebensphase, fand sie. Der Alltag forderte sie so sehr, dass sie am Abend erschöpft war, sie liebte es, an Thorstens Schulter zu liegen, ein Buch zu lesen und friedlich wegzudämmern. Sie hatte sich diesen Mann ausgesucht, um mit ihm ihr Leben so zu führen, wie sie es wollte. Doch er war jetzt ein anderer, längst war es keine »Phase« mehr, sein Lebenshunger war unstillbar. Er bestellte den Acker nicht mehr, ließ das Gewächshaus verkommen, er verkaufte die Schweine, weil er mehr Zeit für sein neues Leben brauchte. Sie gönnte ihm sein Glück so sehr, fühlte sich schlecht, weil sie litt. Es gab Tage, an denen sie stundenlang stritten, an anderen fanden sie keine Worte mehr. Auch er litt, sie sah es.
    Eines Tages sagte sie zu ihrer besten Freundin: »Ich spüre mich nicht mehr. Ich kann mich an nichts mehr freuen.« Es kam die Zeit, in der sie über eine Trennung sprachen. Er wollte in das Ferienhaus seiner Mutter ziehen, das leer stand, packte Koffer und Kisten.

    Was bewirkte Wenz im Leben seiner schwer behinderten Patienten durch die Operation? Schon lange hatte er sich das gefragt. Es war unvorhersehbar, was seine neu gebauten Füße ausrichten konnten. Er hatte Zwillingsschwestern operiert, die sich beide nach ihren OPs getrennt hatten – die eine hatte ihren duldsamen, ergebenen Mann verlassen und sich einen Abenteurer geangelt, heute führte sie eine Farm in Namibia. Die andere hatte entdeckt, dass ihr Mann sie mit seiner Nachbarin betrogen hatte, während sie im Krankenhaus lag. Eine Supermarktkassiererin hatte ihren Job nach der OP verloren und war seitdem arbeitslos – ihrem Arbeitgeber hatte es zu lang gedauert, bis sie wieder auf den Beinen war.
    Wenz wusste, dass seine Operationen Menschen aus der Bahn werfen konnten, doch an niemandem hatte er das so hautnah miterlebt wie an Thorsten. Sie hatten sich befreundet. Einmal, als er zu einer Nachkontrolle in Heidelberg war, waren sie abends in eine Kneipe gegangen, und Thorsten hatte ihm alles erzählt. Als Wenz an jenem Abend zu Bett ging, fragte er sich, ob er Thorsten wirklich geholfen hatte. Oder war der gerade dabei, sein Leben mutwillig zu zerstören? Er hatte geglaubt, dieser Mann sei so gefestigt im Kreis seiner Familie, selbstbewusst und in sich ruhend, die durch die Operation bewirkten Erschütterungen des Lebens könnten ihm nichts anhaben. Er hatte sich getäuscht. »Ich habe dem männlichen Jagdtrieb, der in uns allen wohnt, erst den Boden bereitet.«
    Auch er selbst war diesem Jagdtrieb irgendwann erlegen. Den Seitensprung hatte ihm seine Frau nicht verziehen, er musste ausziehen, seine Familie verlassen. Einige Monate später verliebte er sich Hals über Kopf in eine Studentin. Heute sind sie ein Paar und haben ein gemeinsames Kind.

    Am tiefsten Punkt ihrer Beziehungskrise hatte Thorsten gesagt – und Sarkasmus schwang in seiner Stimme:
    »Dann hat Wolfram doch recht behalten.«
    »Mit was recht behalten?«, hatte Ewa gefragt.
    »Er sagte: ›Ich bin nur zuständig für Ihre Füße, nicht für Ihr weiteres Leben.‹«
    Das war der Wendepunkt. Als Ewa verstand, dass sich auch andere Patienten nach dieser Operation von Grund auf änderten, konnte sie Thorstens Verwandlung leichter akzeptieren.

    Sie leben noch heute in ihrem Traumhaus auf dem Land. Nur nicht mehr ganz so symbiotisch wie früher. Er pflanzt Tomaten an, der Acker aber ist zur Wiese geworden. Manchmal fährt er für eine Woche allein oder mit den Kindern im Urlaub, manchmal auch sie.

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