Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
gelingen.
Thorsten wollte keine Kinder. Er hatte Angst, dass die Fußkrankheit weitervererbt werden könnte. Als Ewa schwanger wurde, war es für ihn zuerst ein Schock. Er suchte den Rat seiner Mutter, die mittlerweile – diese Energie hatte er auch geerbt – an einer Abendschule das Abitur nachgeholt, Medizin studiert und eine Praxis für Allgemeinmedizin eröffnet hatte.
»Dein Großvater, der Vater deines Vaters, hatte die gleiche Krankheit wie du, der konnte am Ende kaum noch laufen«, sagte sie. »Der Zusammenhang war mir damals überhaupt nicht klar.« Später habe sie genauer nachgeforscht, aber nur dürftige Antworten bekommen.
»Und mein Vater selbst? Bei dem soll es doch mit 40 angefangen haben?« Seine Eltern lebten in Scheidung, seit Thorsten zwei Jahre alt war – er hatte seinen Vater nur selten gesehen. Einmal hatte er gewagt, das Thema Füße anzusprechen – der Vater hatte abgeblockt. Es sei nicht die gleiche Krankheit, er habe sich nur verletzt.
»Als ich noch frisch verliebt war, ist mir gar nichts aufgefallen«, erzählte die Mutter. Aber auch beim Vater habe die Deformation definitiv viel früher angefangen, nicht erst mit 40. »Wenn ihr Klarheit wollt«, schloss sie, »braucht ihr eine genetische Beratung, ich gebe euch eine Adresse.«
Ewa war in der neunten Woche, als sie zusammen zum Institut für Humangenetik der Universität Bonn fuhren. Sie hatten nicht über Abtreibung gesprochen, aber Thorsten quälte sich mit diesem Gedanken. Er dachte an die Schmerzen und Qualen, die er früher erlitten hatte. Er wollte sein Kind nicht so leiden sehen.
Die junge Ärztin war freundlich und nahm sich zwei Stunden Zeit. Sie zeichnete einen Stammbaum mit vielen Fragezeichen, weil Thorsten nur vage Angaben machen konnte. Auch die Urgroßmutter könnte betroffen gewesen sein, hatte die Mutter gesagt, ebenso eine ihrer Cousinen. Von der Humangenetikerin erfuhr Thorsten an jenem 8. März 2000 im Alter von 31 Jahren zum ersten Mal den Namen für sein Leiden: Morbus Charcot-Marie-Tooth, abgekürzt CMT – die häufigste erblich bedingte Nervenerkrankung, von 100000 Menschen waren etwa 30 betroffen. Aufgrund des Gendefekts verloren Nervenbahnen, die bestimmte Unterschenkelmuskeln innervierten, ihre schützende Hülle aus fettreichem Gewebe. Folge: Die Nervenimpulse aus dem Gehirn wurden nicht mehr an die Muskulatur weitergeleitet, deshalb schwand diese. Es gab viele Unterformen, bei manchen waren auch die Hände betroffen, bei anderen kamen Lähmungen der Stimmbänder oder Augenmuskeln hinzu. Die Ärztin schlug vor, Muskelgewebe zu entnehmen, damit klarwerde, an welcher Form er leide. Er lehnte ab. Was sollte es bringen, zu erfahren, dass er möglicherweise bald noch schlechter dran sein würde?
Viel schlimmer für ihn war, dass der Erbgang bei allen Formen »autosomal-dominant« war. Das bedeutete: Er würde die Krankheit mit einer Wahrscheinlichkeit von je 50 Prozent an seine Söhne und Töchter weitergeben.
Als sie zurückfuhren, sagte Ewa, dass es nichts ändere. »Du hast dir trotz dieser Krankheit ein schönes Leben aufgebaut. Lass uns alles dafür tun, dass unserem Kind das auch gelingt – falls es dein Gen überhaupt erbt.« Sie war immer optimistisch, dachte er, sah immer die Chancen, das Positive. Deshalb liebte er sie. Offensichtlich hatte sie nie auch nur eine Sekunde daran gedacht abzutreiben.
Im September 2000 kam Oskar zur Welt. Als er ein Jahr alt war, sah es Thorstens Mutter zuerst: Der Junge hatte die »Storchenbeinchen« vom Vater. Sie sagte nichts. Viele Monate später entdeckte Ewa, dass sich auf Oskars Fußrücken Höcker bildeten. »So hat es bei mir angefangen, oder?«, fragte Thorsten seine Mutter, sie saßen im Garten bei einer Tasse Tee. »Ja«, sagte sie und ergriff seine Hand.
Thorsten und Ewa bekamen noch zwei Kinder. Keines war geplant, aber Thorsten akzeptierte die Krankheit und das Risiko besser, seit er ihren Namen kannte. Oliver kam zwei Jahre nach Oskar, Emily war vier Jahre jünger. Oliver blieb vom Gendefekt verschont, Emilys Füße verformten sich noch rascher als Oskars.
Es sollten noch viele Jahre vergehen, bevor Thorsten das erste Mal von jenem Fußchirurg in Heidelberg hörte, der Menschen mit seiner Erkrankung angeblich durch eine Operation helfen konnte. Da war er 40 Jahre alt und verschliss jedes Jahr zwei Paar orthopädische Schuhe, sie kosteten 1500 Euro – eine großzügige Ausnahme der Krankenkasse, die normalerweise Patienten wie ihm
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