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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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normalerweise kein Problem, aber schon meldeten sich die ersten Zuschauer mit Vorschlägen. »Bitte keine Kommentare und Fragen, ich muss mich gerade konzentrieren.« Sollten sie doch selbst kommen und machen, anstatt schlau daherzureden! Endlich erlöste ihn ein Referent mit einem Kurzvortrag, die Live-Schaltung wurde unterbrochen, Wenz konnte sich ungestört dem Problem widmen. Es war das Kahnbein, einer der Fußwurzelknochen. Er würde es komplett entfernen müssen, erst dann könnte er den nach unten verbogenen Fuß ganz aufrichten.
    Thorsten würde seinen linken Fuß erstmals seit drei Jahrzehnten wieder richtig heben können, nachdem Wenz als weiteren Schritt die entscheidende Sehne umgepflanzt hätte: die Sehne eines Fußbeugemuskels, die bisher völlig nutzlos war, sie verkrümmte den Großzeh in die Krallenstellung. Indem er sie verlagerte, würde sie künftig stattdessen den ganzen Fuß heben.
    Pünktlich Wechsel zur Live-Schalte, als er so weit war, den Show-Effekt zu demonstrieren, der immer beeindruckte: das lose Ende der verpflanzten Sehne ragte neben dem Fußknöchel aus der OP-Wunde hervor, er griff es und zog daran wie an der Schnur eines Hampelmanns – und der ganze Fuß streckte sich zu seiner vollen Länge, sah plötzlich aus wie ein normaler Fuß. Wow! Ein Raunen ging durchs Publikum.
    Nach zweieinhalb Stunden hatte Wenz sieben Einzeloperationen durchgeführt, und wie er dem Publikum zuvor versprochen hatte, war jede einzelne Technik älter als er selbst. Er hatte Muskeln versetzt, Sehnen an neuen Stellen angenäht, einen Kanal durch einen Knochen gebohrt und eine Sehne durchgeführt, und zu guter Letzt noch völlig unerwartet einen Ermüdungsknochenbruch richten müssen. Nun stand der Fuß steil nach oben, seine neue Form kam einem gesunden Fuß sehr nahe.
    Doch alles konnte immer noch umsonst gewesen sein. Der entscheidende Moment war immer, wenn er die Blutsperre ins Bein öffnete. Würden die Zehen rosig werden oder aber weiß bleiben? Einige Adern waren durch die Streckposition des Fußes überdehnt, manchmal rissen sie, dann lief das Blut ins Gewebe. In der Vergangenheit hatte er dann schon mal sein eigenes Werk zerstören und amputieren müssen. Wenz sah es in den ersten Sekunden. Rosa! Applaus.

    Der Heilungsprozess zog sich über Monate hin. Die Nerven in dem komplett umgebauten Fuß waren überdehnt und sendeten dumpfe, bohrende Schmerzen. Thorsten ertrug sie nur mit Morphium.
    Viele Wochen wagte er nicht, den Fuß anzuschauen – wenn der Gips gewechselt wurde, bat er die Schwester, einen Vorhang dazwischen zu ziehen. Einmal begleitete ihn eine langjährige Angestellte nach Heidelberg, als Ewa verhindert war – sie wollte dabei bleiben, als der Gips abgenommen wurde. Er hörte nur die Stimmen und Geräusche hinter dem Vorhang, ein Japsen nach Luft, beschwichtigende Worte, dann führte die Schwester die Frau sachte am Arm nach draußen, ihr war schlecht geworden. Als er selbst zum ersten Mal hinsah, durchfuhr ihn ein Schock. Sein Fuß war ein geschwollener Klumpen. Was hatte Wenz nur gemacht? Würde er je wieder gehen können?
    Erst drei Monate nach der Operation, an Weihnachten, nahm der linke Fuß seine neue Gestalt an. Im Februar die gleiche Prozedur am rechten Fuß.
    Im September 2010, ein Jahr nach dem ersten Eingriff, stand Thorsten das erste Mal nach Jahrzehnten barfuß in seinem Garten. Vorsichtig und wackelig setzte er einen Fuß vor den anderen. Das Moos kitzelte die Fußsohlen, es war ein unbeschreibliches Gefühl, das er nie vergessen würde.
    Es verfolgte ihn in den kommenden Wochen, und in ihm erwachte eine unstillbare Sehnsucht, diese neuen Füße zu fordern, sie spüren zu lassen, was andere in ihrer Kindheit gespürt hatten: Sand! Wasser!
    Er musste weg. Sein Körper hatte eine Evolution durchgemacht, doch sein Leben verlief im gleichen Trott. Ewa erwartete, dass er jeden Tag die paar Meter von daheim zum Büro ging und sich dort den ganzen Tag an den Schreibtisch setzte. War es das schon? Hatte er dafür all die Qualen auf sich genommen? Er konnte sich nicht konzentrieren, suchte im Internet nach Orten, an denen er seine Füße spüren könnte. Im November buchte er ein Wellness-Hotel an der Nordsee – für sich allein. Nur ein verlängertes Wochenende. Ewa sagte: »Wenn du meinst, mach das!«
    Vom Zimmer waren es nur wenige Schritte zum Strand. Thorstens Herz pochte, als er sich in den kalten, feuchten Sand setzte und seine Schuhe aufschnürte – seine neuen,

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